Schmidt liest Proust
Donnerstag, 7. September 2006

Berlin - II S.529-549

Ich weiß nicht, ob meine Beobachtung stimmt, daß Frauen eher dazu neigen, nach einer Enttäuschung (wo doch jeder Ausflug in die Wirklichkeit in gewissem Maß enttäuschend ist) alle Bilder und Briefe des Betreffenden zu vernichten, um nicht mehr an ihn erinnert zu werden. Es sind dann auch solche Frauen, die Erfahrungen als "Fehler" bezeichnen, als könne man im Leben zwischen Richtigem und Falschem unterscheiden, wo doch das eine immer ins andere übergeht. Fotos kann man zerreißen, aber wie entledigt man sich seiner Erinnerungen? Vielleicht wäre es besser, sich die ganze Wohnung mit Aufnahmen des verhaßten Kerls vollzuhängen, bis er einem so wenig auffällt, wie die Tapete. Ich hebe immer alles auf, ich glaube, ich habe noch Zettel, die mir vor 20 Jahren an die Tür gehängt wurden. Aber ich sehe mir das alles nur noch ungern an. Es gibt ja keine Emotion, die nicht in einem fortleben würde, schließlich hat man sie ja auch selbst erzeugt. Man muß seine Konfrontation mit der Vergangenheit behutsam dosieren, man geht ja auch nicht am selben Tag in zwei Wagner-Opern. Es ist schon ein Schock, jemanden, mit dem man mal zusammen war, nach zehn Jahren wiederzutreffen. Nicht, weil es unangenehm wäre, sondern weil man sich selbst zwanghaft mit damals vergleicht. Vielleicht trifft man deshalb immer weniger Leute. Dieses ständige Nachjustieren der Selbstwahrnehmung strengt an. Welcher Zusammenhang läßt sich zwischen den Jochen Schmidts herstellen, an die ich mich erinnere, wenn ich an mein Leben zurückdenke? "Der Mann, den sie ich nannten", wollte ich meine Memoiren immer nennen.

Es gibt eine Szene in meiner bevorzugten Sitcom "Frasier", wo Frasier, dem Psychiater, in einem Holzhäuschen in den Bergen alle seine Ex-Frauen erscheinen, inklusive der Mutter, und über ihn ein Strafgericht halten. So etwas kann mir täglich passieren, ich muß nur einmal aus Zerstreutheit versäumt haben, vor Beendigung einer Arbeit, eine neue Arbeit begonnen zu haben. Denn wenn der zeitliche Abgrund zwischen zwei Arbeiten, den manche als "Freizeit" bezeichnen, zu groß ist, geht das Theater los. Mit zunehmendem Alter hat man ein inneres Arsenal von dramatischen Szenen, verstörenden Gefühlen, verlorenen Glücksmomenten, unverarbeiteten Erlebnissen, für die das Bewußtsein kaum noch genug Raum bietet. Wie sich das alles vom Gehirn biochemisch verwalten läßt, ist mir sowieso ein Rätsel.

S.529-549 "Als ich ein paar Tage nach Saint-Loups Abreise Elstir dazu gebracht hatte, eine kleine Matinee zu veranstalten, bei der ich Albertine treffen sollte, tat es mir leid, daß ich die momentane Frische und Eleganz, die beim Verlassen des Hotels an mir festzustellen war (dank einer ausgedehnteren Ruhe und der besonderen, meiner Toilette gewidmeten Aufmerksamkeit), nicht (ebenso wie den Kredit, der mir durch Elstir zuteil wurde) für die Eroberung einer anderen, interessanteren Person aufsparen, daß ich vielmehr alles dies für das bloße Vergnügen, Albertines Bekanntschaft zu machen, aufwenden sollte." Ja, so ist das mit der Schlüpfer-Hierarchie, welche Frau ist welche Qualität wert? Oder muß man sogar neue kaufen? Bei wem muß es Sekt sein und bei wem reicht der Aldi-Wein? Wenn man ehrlich ist, stellt man sich immer solche Fragen. Und Marcel weist uns auch hier beharrlich darauf hin, daß Albertine eigentlich die völlig falsche Wahl ist. Ich habe ja läuten hören, daß von ihr noch ganze Bücher unseres Zyklus handeln werden, das macht es umso bemerkenswerter.

Als Marcel Albertine vorgestellt werden soll, hat er die Ruhe weg und ißt erst sein Eclair auf, um danach einen Herrn "nach Einzelheiten über normannische Volksfeste" auszufragen. Es macht ihm dann zwar Spaß mit ihr, aber: "Es ist mit solchen Freuden wie mit Photographien. Was man in Gegenwart der Geliebten aufnimmt, ist nur ein Negativ, man entwickelt es später, wenn man zu Hause ist und wieder über die Dunkelkammer im Innern verfügt, deren Eingang, solange man andere Menschen sieht, wie 'zugemauert' ist." Und wann entwickelt man seine Negative, wenn der Kindergarten Ferien hat? Einerseits stellt er an Albertine sofort einen "kleinen Leberfleck auf der Wange unterhalt des Auges" und "eine entzündete Schläfe, die nicht sehr schön aussah" fest, wofür ihn eigentlich alle Leserinnen hassen müßten, andererseits verwendet sie das Adverb "vollkommen" an Stelle von "ganz", was wieder für "einen gewissen Grad von Geschliffenheit und Kultur, deren ich diese radfahrende Bacchantin und rauschhaft rasende Muse des Golfspiels gar nicht für fähig gehalten hätte."

Nun wird einem von Frauen gerne vorgehalten, man sei nicht an ihnen interessiert, sondern an einem Bild, das man sich von ihnen gemacht hat. Das kann man verstehen, aber: "Von welcher trüben Langeweile muß das Leben der Menschen erfüllt sein, die aus Trägheit oder Schüchternheit sich unmittelbar im Wagen zu Freunden begeben, die sie kennenlernten, ohne zuvor von ihnen geträumt zu haben, und niemals auf der Fahrt bei dem zu verweilen wagen, was sie sich eigentlich wünschen." Für Marcel hat die "reale" Albertine nichts mit dem Mädchen zu tun, das er am Strand beobachtet, und von dem er so ausführlich geträumt hat, sie scheint ihm "mit gauklerhafter Fingerfertigkeit" untergeschoben worden zu sein. Aber eigenartigerweise muß man ihr jetzt trotzdem treu sein, obwohl sie doch eine ganz andere ist: "Man verlobt sich mit einem Wesen, das ein anderes vertritt, und fühlt sich dann gehalten, den vertretenden Teil auch zu ehelichen." Er ist zwar etwas enttäuscht, aber immerhin hofft er, über sie vielleicht auch die anderen Vertreterinnen der "kleinen Schar" kennenzulernen, diesen Zug von "rosig und golden strahlenden, von Sonne und Wind gehärteten Jungfrauen..."

Das nächste mal, als ihn auf der Mole ein junges Mädchen "mit Barett und Muff" anspricht, erkennt er Albertine kaum wieder. Aber er freut sich an ihrer zwanglosen Art zu reden. "Ich, der ich Saint-Loup bewundert hatte, als er ganz natürlich die Kleinbahn wegen ihres gewundenen Dahinkriechens als 'Blindschleiche' bezeichnet hatte, fühlte mich jetzt durch die Leichtigkeit eingeschüchtert, mit der Albertine von 'Straßenbahn' und 'Schneckenpost' sprach." Octave, ein Bekannter von ihr, stößt dazu (was einem in dem Moment immer als Zufall erscheint, aber seltsamerweise stoßen in der ersten Zeit mit einer Frau fast immer Bekannte von ihr dazu),ein müßiger junger Mann, der Golf und Baccara spielt und sich mit Kleidung, Zigarren, Bargetränken und Pferden auskennt: "...er war in diese Dinge bis in die kleinsten Details eingeweiht, und mit stolzer Unfehlbarkeit erreichte er in dieser Hinsicht etwas wie die schweigsame Bescheidenheit des großen Gelehrten -, ohne die geringste Entsprechung auf dem Gebiet der Kultur des Geistes..." Wie langweilig sind diese Männer, mit ihren KFZ-Kenntnissen, der Fähigkeit, einen Estrich zu legen, oder den richtigen Turnschuh auszuwählen. Und dann wissen sie nicht, was ein Hendiadyoin ist! "Da völliges Nichtstun aber die gleichen Wirkungen hervorbringt wie Überarbeitung, und zwar sowohl auf psychischem wie auf körperlichem Gebiet, hatte die unaufhörliche Abwesenheit jedes geistigen Impulses hinter der Denkerstirn des bewußten Octave den Effekt, ihn trotz seiner nach außen hin zur Schau getragenen Ruhe mit einem völlig zwecklosen Denkbedürfnis zu erfüllen, das ihn des Nachts am Schlafe hinderte, wie es einem überarbeiteten, mit metaphysischen Problemen ringenden Philosophen widerfährt."

Wie schwer es ist, sich zum erstenmal mit einer Frau zu unterhalten, die man noch nicht gegoogelt hat: "Ich hatte mit ihr gesprochen, ohne recht zu wissen, wohin meine Worte fielen und wie sie aufgenommen würden, ganz als wenn man Kieselsteine in einen bodenlosen Abgrund wirft. Daß unsere Reden gewöhnlich von der Person, an die wir uns wenden, mit einem Sinn erfüllt werden, den diese ihrem eigenen Wesen entnimmt, ist eine Tatsache, die das tägliche Leben unaufhörlich lehrt. Wenn wir uns aber außerdem noch in Gegenwart eines Menschen befinden, dessen Erziehung [..] uns völlig unbekannt ist wie auch seine Meinungen, seine Lektüre, seine Prinzipien, wissen wir nicht, ob unsere Worte etwas in ihm wecken, was ihnen stärker entspricht als im Falle eines Tieres, dem wir trotz aller Verschiedenheit gewisse Dinge begreiflich machen wollen." Daher ja mein Vorschlag, sich nur noch mit Handouts kennenzulernen, auf denen die wichtigsten Daten über einen stehen. Man muß ja wissen, wie tief man sich hinunterbeugen, oder wie sehr auf die Zehenspitzen stellen muß, um dem anderen ebenbürtig zu sein. Das beste Mittel für mich ist natürlich, ihr erst einmal alle meine Bücher zum lesen mitzugeben und sie danach abzufragen, was sie davon gehalten hat. Dann weiß man eigentlich alles über sie. Da es aber als eitel gilt, seine Bücher immer dabei zu haben, muß man sich in atavistischen Kommunikationsformen üben, z.B. ihren Gesichtsausdruck deuten. Aber: "Der gleiche physiognomische Ausdruck ließ verschiedene Deutungen zu; ich zögerte wie ein Schüler bei einer Übersetzung aus dem Griechischen." Und noch schwerer ist es ja, den eigenen Gesichtsausdruck zu kontrollieren, das ist nämlich, als würde man seine Gedanken ins Griechische übersetzen.

Unklares Inventar: - im Break fahren.

Verlorene Praxis: - sich vornehmen, dem Mädchen gegenüber "bei der nächsten Begegnung kecker aufzutreten."

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