Schmidt liest Proust
Dienstag, 12. September 2006

Berlin - II S.612-S.619 (Schluß)

Auf einem Spielplatz ein altes DDR-Klettergerüst, einer dieser Bögen aus Metall, an denen man immer versucht hat, unten hängend vom einen Ende zum anderen zu klettern, ohne runterzufallen, was niemand schaffte, weil man nach der Hälfte kopfüber hing. Die vom Greifen glattpolierten Stellen, an denen sich die Farbe gelöst hatte, und die sich besonders schön anfaßten. Am Abend der Metallgeruch an den Händen. Wenn man stark genug wäre, könnte man so ein Gerüst auch als Griff benutzen, um die Erde wegzuwerfen.

S.612-S.619 (Schluß) Warum nur hat sich Albertine nicht von Marcel küssen lassen? Vielleicht lag es am "Gefühl, mit einem unangenehmen Geruch behaftet zu sein"? Frauen sollten also vorsichtig sein, denn wenn ein Mann sie nicht küssen darf, denkt er sofort, sie hätten Mundgeruch. Oder Albertine fürchtete, sein "Zustand nervöser Schwäche könne sich durch einen Kuß auch auf sie übertragen." Man weiß ja nicht, was in den Köpfen der Mädchen vorgeht, wenn sie sich so seltsam unnatürlich benehmen. Aber Albertine tröstet ihn, indem sie ihm einen kleinen goldenen Bleistift schenkt (ein Bleistift, wie Hans Castorp ihn im Zauberberg von Madame Chauchat borgt, dort war er silbern und ja bekanntlich tatsächlich als Phallussymbol gemeint. Bei Proust bekommt diese banale Deutung auch einen Sinn, wenn man weiß, daß die Vorlage für Albertine ein Mann war. Allerdings kann man sich ja eigentlich kaum ein Geschenk machen, das nicht mit ein bißchen Phantasie als Phallussymbol zu werten wäre.)

Da Albertine sich so ziert, schwankt er wieder zwischen der ganzen Gruppe "da ich ihnen allen ja eine Art von kollektiver Liebe widmete, wie der Politiker oder Schauspieler sie für das Publikum hat, über dessen Treulosigkeit er sich nie trösten kann, nachdem es ihm einmal seine Gunst schenkt." Warum nicht lieber Andrée? Sie ist "zu intellektuell, zu nervös, zu kränklich, zu sehr wie ich selbst." Denn Andrée gehört zwar zur kleinen Schar, die ja immer Golf spielt und Rad fährt, aber sie gesteht ihm, sie nutze Sport nur "als Mittel gegen Neurasthenie und Stoffwechselstörungen; ihre schönsten Stunden aber verbringe sie über der Übersetzung eines Romans von George Eliot." Davon heißt es für ihn natürlich die Finger zu lassen.

Den Schluß des Buches nutzt Proust für einen Rückfall in Wortmalerei, eine zweiseitige Hommage an Albertines Teint. Ich versuche einmal zusammenzufassen: ihre Wangen "matt getönt... weißes Wachs...schimmerten rosig durch... von einer beweglichen Helligkeit getränkt... die wie flüssig und durchsichtig gewordene Haut... ihr Gesicht... wie das Ei eines Distelfinken... opalfarbenen... polierten Achat... gleich den durchsichtigen Flügeln eines leuchtendblauen Schmetterlings... sehr häufig aber... noch farbiger... rosig nur die Nasenspitze... Wangen wie poliert... rosiges Email... es kam vor, daß die Farbe der Wangen den ins Violette spielenden rosa Ton von Zyklamen hatte [ein Glück, daß er sich so gut mit Blumen auskennt, sonst hätten wir das nie erfahren...] düsteren Purpurton gewisser Rosensorten..." Ein Beschreibungs- und Vergleichsfuror, der einen als Leser doch etwas ermüdet. Man hätte dem Buch ja eine Farbskala beilegen können, wie beim Kauf von Gardinen oder Teppichböden, von Weiß bis zu düsterem Purpur. Dann könnte man immer nachsehen, welche Farbe gerade gemeint ist. Ich bin mir auch gar nicht so sicher, ob Proust hier wirklich von Albertines Gesicht spricht, man muß ja bei diesen Schriftstellern auf alles gefaßt sein. Aber vielleicht bin ich auch verdorben von meinem Besuch in der Freud-Ausstellung neulich.

Die Manie, an allem, was man aus der Ferne begehrt hatte, herumzumäkeln, sobald es sich einem anbietet, wird noch einmal zusammengefaßt: "Im Grunde ist es ja eine Lösungsart für das Problem des Daseins wie jede andere, wenn wir die Dinge und die Personen, die uns aus der Ferne schön und geheimnisvoll erscheinen, nahe genug an uns heranrücken, um uns darüber klarwerden zu können, daß sie ohne Geheimnis und ohne Schönheit sind; es ist eine der seelisch hygienischen Maßnahmen, zwischen denen man zu wählen hat, eine Maßnahme, die vielleicht nicht sehr empfehlenswert ist, die uns aber jedenfalls das Leben in einer gewissen Ruhe verbringen und auch – insofern sie uns gestattet, nichts zu bereuen, da wir ja überzeugt sein können, das Beste erlangt zu haben, nur daß dies Beste eben weiter nichts Besonderes ist – den Tod ertragen läßt." Wer vom Leben nichts erwartet, dem fällt es leichter zu sterben, eine ziemlich resignierte Einsicht. Klingt auch ein bißchen nach dem Fuchs und den Trauben. Jedenfalls macht mich das jetzt ganz traurig, und ich hoffe, ich lasse mich davon nicht anstecken. Es muß doch auch Dinge geben, die aus der Nähe betrachtet nicht ohne Geheimnis und Schönheit sind. Zum Beispiel meine neue Adidas-Trainingshose, die mir jetzt schon zu schade zum trainieren vorkommt. Vielleicht werde ich sie zum Schreiben benutzen, das würde dieser ungesunden Tätigkeit etwas sportives geben.

Unklares Inventar: - Cretonne

Verlorene Praxis: - Im Hotel ungeduldig werden, weil einem seine Sachen noch nicht gebracht worden sind, so daß man sich nicht anziehen kann.

Selbständig lebensfähige Sentenz: "...um wirklich durch eine Frau zu leiden, muß man vollkommen an sie geglaubt haben."

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