Schmidt liest Proust
Donnerstag, 21. September 2006

Berlin - III Die Welt der Guermantes - Seite 169-190

Während die Sonne scheint, und es immer noch nicht nach Herbst aussieht, hat sich in mir ein hartnäckiger Katarrh ausgebreitet, Nase und Rachen sind befallen, und ich bin völlig gebrochen, der männliche Körper ist wie ein Turm, nimmt man ein Steinchen heraus, fällt alles in sich zusammen. Nachdem ich mich 5 Monate unter Qualen auf den diesjährigen Berlin-Marathon vorbereitet habe, sieht es so aus, als müßte ich ihn nach 5 Teilnahmen in Folge ausfallen lassen. Ich war schon manchmal ein-zwei Wochen davor krank gewesen, hatte mich aber immer zwingen können und war dafür manchmal hinterher Wochen krank. Im Moment scheint mir der Verzicht leichtzufallen, das wichtigste war ja, in Form zu kommen und sich einmal mehr dieser absurfen Selbstdisziplin zu unterwerfen. Aber, wenn ich ehrlich bin, haben meine Teilnahmen, die für 5 Jahre fast täglichen Trainings stehen, mich menschlich nicht weitergebracht. Man kann sich zwar fast vier Stunden vor Schmerz wie auf Messern laufend nahe an eine Ohnmacht bewegen, ohne deshalb aufzugeben oder auch nur stehenzubleiben, aber es fällt einem dadurch kein bißchen leichter, sich beim Nachbarn über nächtliche Ruhestörungen zu beschweren, oder dem Sparkassenmann einmal klar und deutlich zu sagen, daß er nicht alle paar Wochen anrufen muß, um einen zu überreden, sein Geld irgendwie sinnvoller zu verwalten. Ich bin lediglich noch unspontaner geworden, weil ich so lange meinen ganzen Alltag dem Rhythmus der Vorbereitung unterworfen habe und immer Überraschungen vermeiden mußte, um keinen Trainingslauf zu gefährden.

Aber es war immer klar, daß ich nur so lange Marathon laufen werde, wie ich es ohne Unterbrechung getan habe, also wie die Serie nicht gerissen ist. Ich werde sicher nicht noch einmal anfangen. Damit geht für mich eine Epoche zuende und mir fallen die Jahre wieder ein, die immer unter diesem einen Ziel standen. Die Läufe durch den Smog von Kaliningrad, durch die verwiiderte Borisowa Gradina in Sofia, das schöne Flußufer von Minsk, der weiße Beton von Brest, die Runden um den Central Park, wo ich im Dunkeln immer Angst hatte, an der nördlichen Kurve entführt zu werden, der Wind auf dem Oderdeich, die Schwarzmeerküste, die Plattenbauten von Sarajevo, wie Jahresringe des Sozialismus, der verschneite Thüringer Wald. Wie ein Militärstratege die Landschaft intuitiv als Aufmarschgebiet mustert, ein Geologe aus ihr Informationen zur Erdgeschichte liest und ein Tourist den kürzesten Weg zu den Sehenswürdigkeiten sucht, sieht der Läufer überall nur Laufstrecken. Wenn ich denke, daß es die meiste Zeit eine Überwindung war, überhaupt noch einen Schritt zu tun, daß ich vielleicht ein Zehntel aller gelaufenen Kilometer mit Freude gelaufen bin, dann frage ich mich, warum ich nicht dieselbe Energie dafür aufbringe, endlich einmal die Klinke von meiner Schlafzimmertür festzuschrauben, ein neues Mailprogramm zu installieren oder Wohngeld zu beantragen. Das war alles nicht mehr wichtig, weil ich der verlorenen Zeit nachlaufen mußte.

Seite 169-190 Nach wie vor setzt er der Herzogin nach, aber er spürt auch deutlich, daß es ihr unangenehm ist, ihm täglich zu begegnen, da sie vermuten darf, daß dem kein Zufall zugrunde liegt. Um das auszugleichen, antwortet er ihr, wenn sie sich sehen, kaum auf ihren Gruß oder er "...starrte sie an, ohne überhaupt zu grüßen..." Das muß man als Frau immer mitbedenken, wenn einen auf der Straße junge Männer anstarren, sie wollen einem lediglich nicht zur Last fallen. Nur manchmal ist er weniger traurig, nämlich wenn die Madame einen schwermütigen Ausdruck hat, weil dieser "...ihr etwas Unglückliches und Einsames gab, das mich beschwichtigte." Wenn sie sich schon nicht mit ihm abgibt, dann soll sie wenigstens leiden, so denkt der Liebende.

Sein Vater hat zwar inzwischen akzeptiert, daß Marcel die Laufbahn eines Schriftstellers einschlagen wird, aber er selbst hat noch nicht einmal damit begonnen zu schreiben. Nichts hilft, die Schreibhemmung zu überwinden: Schwung, Methode, Vergnügen, Verzicht auf Spaziergänge, Belohnung durch Spaziergänge, Momente des Wohlbefindens, Phasen der Krankheit, immer bleibt am Ende ein weißes Blatt Papier "...wie bei gewissen Kartenkunststücken die eine Karte, die man immer zieht, wie sehr auch vorher das ganze Spiel durchgemischt worden ist."

Gefährlich ist es auch, sich einen anderen Rhythmus aufzwingen zu wollen, also früh schlafen zu gehen, Wasser statt Alkohol zu trinken und zu arbeiten, denn das nehmen einem die Gewohnheiten übel "...sie machten mich vollends krank, so daß ich genötigt war, die Alkoholdosis zu verdoppeln und zwei Tage lang überhaupt nicht zu Bett zu gehen; ich konnte dann sogar nicht mehr lesen und nahm mir vor, ein andermal vernünftiger, das heißt weniger vorsichtig zu sein, wie ein armes Opfer, das sich bestehlen läßt, aus Furcht, bei etwaigem Widerstand auch noch ermordet zu werden."

Mit Saint-Loup geht er dessen Freundin auf ihrem Dorf abholen, sie wollen zusammen ins Theater. "Er heiratete sie nur deshalb nicht, weil ein Instinkt für das Zweckmäßige ihn erkennen ließ, daß sie, sobald sie nichts mehr von ihm zu erwarten hätte, ihn verlassen oder wenigstens ganz ihren Neigungen leben werde und daß man sie in der Hoffnung auf das erhalten müsse, was der nächste Tag brächte." Marcel bleibt einen Moment zurück und genießt die Baumblüte, dann erscheint Saint-Loup mit seiner sagenhaften Freundin "...deren geheimnisvoll in einen Leib wie in ein Tabernakel eingeschlossene Persönlichkeit das Objekt war, das unaufhörlich die Phantasie meines Freundes beschäftigte, das zu kennen ihm ewig unmöglich schien..." Diese ist Marcel nun aber nicht ganz unbekannt, denn es ist Rahel, die Jüdin aus dem Bordell, das er früher aufgesucht hat. Das Mädchen, das, wenn sie die Tür schloß "sogleich anfing, ihre Sachen abzulegen, wie man es beim Arzt tut, der einen untersucht". Also eine Frau, die ihm "höchstens wie ein mechanisches Spielzeug erschien...", während sie Saint-Loup schon so lange im Liebeswahn gefangen hält. Diese "völlige Diskrepanz unserer Eindrücke" lehrt ihn, daß etwas, was dem einen 20 Francs wert ist, dem anderen sein Vermögen, seinen Stand, seine Familie aufwiegt. Zumal Saint-Loup ihr gerade ein Kollier für 30000 Francs bestellt hat. Sie sind eben auf verschiedenen Wegen zu ihr gelangt und würden sie "darum niemals von der gleichen Seite her sehen." Vielleicht liegt ihrer unterschiedlichen Bewertung derselben Frau nur ein Zufall zugrunde. Während sie Marcel schon im ersten Moment für 20 Francs zugänglich gewesen war, hatte sie sich Saint-Loup vielleicht aus einer Laune heraus etwas schwierig gezeigt. "Hat sie es mit einem stark in Gefühlen lebenden Menschen zu tun, beginnt, selbst wenn sie es gar nicht merkt, besonders aber, wenn sie es merkt, nun ein furchtbares Spiel." Denn der Mann erhöht den Einsatz und sie kann versuchen, den Preis in die Höhe zu treiben. Womöglich stirbt er gar, ohne sie je geküßt zu haben, in dem Glauben, das höchste Glück im Leben sei ihm versagt geblieben.

Unklares Inventar: - Lavillièrekrawatten.

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