Schmidt liest Proust
Dienstag, 19. September 2006

Berlin - III Die Welt der Guermantes - Seite 129-149

In der seit Jahren bewährten, eigentlich bequemen Position, die ich beim Lesen einnehme, schläft mir doch immer wieder die linke Hand, die das Buch hält, ein, vom kleinen Finger angefangen bis zum Mittelfinger. Was ich bis jetzt noch nicht bemerkt hatte, war, daß mir manchmal auch Teile der Kopfhaut einzuschlafen scheinen. Heute habe ich mich mit dem Bleistift links hinten am Kopf kratzen wollen, und erschrak fast, weil sowohl für meinen Kopf die Berührung von einem Fremden zu kommen schien, als auch meine Hand einen fremden Kopf zu berühren meinte. Es war ein kleiner Schock, einmal zu spüren, wie sich mein Kopf für andere anfühlt, nämlich wie ein haariger, schwerer Klumpen. Nur, wenn durch Betäubung die Verbindung zwischen Leib und Seele getrennt wird, können beide sich gegenseitig wahrnehmen. Man kann vielleicht vermuten, daß es auch im emotionalen Bereich so funktioniert: erst wenn Teile meines Gefühlslebens einschlafen, sehe ich, wie fremde Gefühle auf mich einwirken, und umgekehrt beobachte ich mich dabei, wie ich auf andere wirke.

Seite 129-149 Marcel lauscht den Erörterungen der jungen Offiziere zur Kriegskunst, die ihn ja neuerdings so fasziniert. Die für die eigene Strategie notwendige Hermeneutik der Bewegungen des Feindes. Die Auslegung seiner Tagesbefehle, die ja auch schon zur Täuschung formuliert sein könnten. Finten, die, um glaubhafter zu wirken, ernsthaft ausgeführt werden. Jede Schlacht ist das "taktische Pasticcio" einer früheren Schlacht, die man aus ihr herauslesen kann. Die früheren Schlachten, die "die Aristokratie der neuen Schlachten ausmachen." Man muß die Kriegsgeschichte studieren, um unter einer modernen Schlacht die Idee einer älteren wiederzuentdecken. Jeder große Feldherr hat aus der Kriegsgeschichte seine bevorzugten Strategien entnommen, die er immer wieder studiert hat und irgendwann zum Einsatz bringen wird. Das Lesen der Landschaft als Terrain für die Schlacht. Ein Schlachtfeld kann immer wieder Schauplatz einer Schlacht werden, da sich das Terrain nunmal dazu eignet. Der Stratege sieht in seiner Phantasie durch die Landschaft Armeen ziehen, genau auf den Wegen, die sie später nehmen werden, weil die Landschaft es so vorschreibt. Was macht das Genie einen großen Heerführers aus? Wie kann man seine Intuition beschreiben, die ihn zwischen gleichwertigen Taktiken die siegreiche auswählen läßt? Die Beschleunigung, die die Entwicklung der Kriegskunst durch Kriege selbst erfährt, in denen sich beide Seiten die Lehren zunutze machen, die ihnen der Gegner erteilt und ihn zu übertrumpfen versuchen. "Aber das ist ja jetzt vorbei. Bei den grauenhaften Fortschritten der Artilleriewirkung werden künftige Kriege, falls es überhaupt noch zu Kriegen kommt, so kurz sein, daß, noch ehe man daran denken kann, die Lehren des Krieges zu nutzen, der Friede bereits geschlossen sein wird."

Obwohl er für gewisse Zeiten Madame de Guermantes fast vollständig vergißt, kann er dann doch manchmal wieder kaum atmen vor Sehnsucht. "Ein weicherer Lufthauch, der vorüberstrich, schien mir von ihr eine Botschaft zu bringen wie einst von Gilberte auf den Feldern von Méséglise: man wandelt sich nicht, man nimmt in seine Gefühle für ein anderes Wesen viele schlummernde Elemente auf, die es weckt, obwohl sie ihm eigentlich fremd sind." Der alte Gedanke, daß die Liebe nichts ist, was von außen kommt, sondern aus einem selbst. Wie sollte jemand auch anders denken, der der Meinung ist, er sei ein Baum, der sich ohne jeden Einfluß von außen aus sich selbst heraus entfaltet?

Saint-Loup hat wenig Glück mit seiner Geliebten: "Denn die Gründe, weshalb sie schlechter Laune war, mit den Füßen stampfte, weinte, waren ebenso unbegreiflich wie die von Kindern, die sich in einem dunklen Zimmer verschanzen, nicht zum Essen erscheinen, jede Erklärung ablehnen und nur um so verzweifelter schluchzen, wenn man ihnen aus Ratlosigkeit ein paar Klapse versetzt." Sie weiß nicht, warum sie mit Füßen stampft, und wir können es nicht erraten, weil wir die beiden noch nicht zusammen erlebt haben. Aber ihre Zustände zerren an seinen Nerven, was dazu führt: "...daß der Bruch, als er nun einmal zur Gewißheit geworden war, für ihn einen ganz ähnlichen Reiz wie eine Versöhnung bekam." Aber nicht für lange, denn sie schweigt, und Schweigen "...stellt eine furchtbare Macht in den Händen derjenigen, die geliebt werden, dar." Jedenfalls wird er nicht nach Paris können, um seiner Tante von Marcel vorzuschwärmen. Der kommt deshalb auf die viel bessere Idee, als Vorwand für einen Besuch bei ihr, ein Bild von Elstir anzugeben, in dessen Besitz sie sich befindet.

Unklares Inventar: - Keramiken von Bernard Palissy.

Verlorene Praxis: - Aus Rücksicht auf seine Hunde, Affen, Hänflinge und den Papagei eine kleine Villa in der Nähe von Versailles mieten.

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