Schmidt liest Proust
Dienstag, 24. Oktober 2006

Berlin - IV Sodom und Gomorra - Seite 150-171

Die Behinderten, die in Amerika an den Supermarktkassen als Einpacker arbeiten, sollen besonders gerne runde und glatte Gegenstände anfassen, weshalb sie immer als erstes nach den Tomaten greifen und sie dann ganz nach unten packen, wo sie kaputtgehen.

Die nordkoreanische Regierung hat festgestellt, daß lange Haare die Gehirnaktivität behindern, weil sie den Nerven Sauerstoff entziehen. Es ist nicht das erste mal, daß ich den unberechenbaren, im Grunde literarischen Einfallsreichtum von Diktaturen bewundere, wenn es darum geht, mit absurden Gedankengängen zu überraschen.

Idee für einen legendären Sketch, der in Amerika spielt: Ein Jugendlicher bekommt im Laden keinen Alkohol verkauft. "You have to be 21!" Daraufhin kommt er mit 20 anderen Jugendlichen wieder.

In der Kaufhalle die Betreiberin vom Copy-Shop gesehen und kurz überlegt, ob ich sie um ein Autogramm bitten soll, schließlich ist sie ja so eine Art Prominente in unserer Gegend.

Nachmittags im Puppentheater, wo "Die drei Schweinchen" gegeben werden. Der Erzähler hebt an: "Wir werden heute das Märchen von den drei Schweinchen und dem Wolf hören". Daraufhin fängt ein Kind an zu heulen und muß rausgetragen werden. Ob die Eltern sauer sind, weil das Eintrittsgeld verschwendet war? Die Wirkung des Stücks hätte ja die des Titels kaum übertreffen können.

Gegenüber vom Café steht ein Vietnamese. Überlege, ob er sich freuen würde, wenn ich ihm zeige, daß in der Zeitung was über Asien steht.

Nachdem ich meine Notizen übertragen habe, fühle ich mich schlagartig besser, als wären Gedanken Geschwüre, die man sich rausoperieren muß. Und ich dachte schon, die Fertig-Sushi von "Extra" seien abgelaufen gewesen. Manchmal, wenn mir auffällt, daß ich schon seit einer Weile völlig beschwerdefrei bin, weine ich vor Rührung und muß aus dem Café getragen werden. Vielleicht haben meine Nerven zuwenig Sauerstoff, weil mir überall Haare wachsen? Wie auch immer, ich würde niemanden in diesen Körper lassen, er würde unter den dort herrschenden Bedingungen zugrunde gehen. Man muß schon dazu geboren sein, um es hier drinnen auszuhalten. Alles, was man tun kann, um sich etwas Erleichterung zu verschaffen, ist, von Zeit zu Zeit eine Tomate zu streicheln.

Seite 150-171 Die Prinzessin von Guermantes: "Ich finde, daß eine Frau, die sich in einen Mann von Jochen Schmidts Palamèdes außerordentlichen Qualitäten verliebt, die Dinge von einer genügend hohen Warte ansehen und hinlängliche Ergebenheit beweisen sollte, um ihn im ganzen hinzunehmen und zu verstehen, so wie er ist, seine Freiheiten und seine Launen zu respektieren und einzig zu versuchen, alle Schwierigkeiten für ihn aus dem Wege zu räumen und in seinem Kummer zu trösten." Den Satz werde ich mit heißem Draht in eine Holzscheibe brennen und mir um den Hals hängen, bis die richtige anbeißt.

Den Herzog freut, daß sein Bruder Charlus so nett mit seiner Geliebten, Madame de Surgis, gesprochen hat. Er wird kurzzeitig von Rührung übermannt und lobt ihn, "ebenso wie man in der Absicht, für die Zukunft heilsame Gedächtnisassoziationen zu schaffen, einem Hund Zucker gibt, nachdem er 'schöngemacht' hat." Er ahnt ja nicht, daß Charlus nur einen Weg gesucht hat, an die beiden prächtigen Söhnen der Madame zu kommen. Was würde ich davon halten, wenn mein Bruder die Tochter meiner Geliebten verführt? Und würde es etwas ändern, wenn er nur ihren Sohn verführen würde?

Endlich verlassen wir mit Herzog, Herzogin und Marcel diese öde Soiree, nur noch die Treppe gilt es hinabzusteigen und dann schnell in den Wagen, man muß ja zum Glück nicht erst die Mäntel aus dem Jackenhaufen im Flur vorkramen und sich durch die Schlange der vor dem Klo wartenden Betrunkenen zur Haustür drängeln, man muß auch nicht befürchten, jemand könnte die Flasche "Le Patron" im Rucksack bemerken (die man vorhin in weiser Voraussicht erstmal noch nicht ausgepackt hatte, es war ja genug zu trinken da), nein, damals war das Leben noch unkomplizierter: "...es wurde gemeldet, daß er Wagen vorgefahren sei."

Nur noch eine letzte Madame müssen wir auf der Treppe abfertigen, eine, die, nachdem sie jahrelang nicht zur Prinzessin eingeladen worden ist, nunmehr stets so spät kommt, um sich den Anschein zu geben, auf die Soiree keinen Wert zu legen und lediglich zu erscheinen, um, zu einem Zeitpunkt, da die meisten Eingeladenen schon gegangen sind, den Gastgebern einen Besuch abzustatten. Auch sie hat von Oriane bestimmte Phrasen übernommen, versetzt sie aber "...mit ihrer natürlichen Sanftmut und einem Ausdruck der Aufrichtigkeit [..], den ein gewisser kraftvoller, von ferne an deutsche Provenienz gemahnender Einschlag ihrer zärtlichen Stimme gab." Aufrichtigkeit, dafür stehen wir im französischen Roman.

Im Wagen sind Marcels Gedanken nicht mehr bei der Herzogin, die neben ihm sitzt, sondern bei den Bordellmädchen, die ihm Saint-Loup in Aussicht gestellt hat. In seiner Phantasie "...verdichteten sich in diesen beiden Personen, die zu einer verschmolzen, alle Liebeswünsche, welche mir täglich so viele Schönheiten zweier verschiedener Klassen einflößten, einerseits die Gewöhnlichen, Üppigen, die majestätischen Kammerfrauen aus großen Häusern [..] andererseits jene jungen Mädchen, bei denen es mir manchmal genügte, ohne daß ich sie auch nur hatte vorübergehen oder -fahren sehen, ihren Namen in einem Ballbericht gelesen zu haben, damit ich mich in sie verliebte..." In welchem Beruf darf man sich die gewöhnlichen, üppigen, majestätischen Kammerfrauen wohl heute vorstellen? Vielleicht als Hockey-Spielerin? Oder als Aufgießerin in der Sauna? Das schöne an den Bordellmädchen ist, daß er jederzeit hingehen könnte! "Ich schob die Stunde noch hinaus, in der ich mir dieses doppelte Vergnügen verschaffen wollte, so wie ich es mit dem Beginn der Arbeit tat, aber die Gewißheit, es mir verschaffen zu können, sobald ich irgend wollte, enthob mich fast der Notwendigkeit, es auch wirklich zu tun, wie man Schlaftabletten nur in Reichweite haben muß, damit man sie gar nicht braucht und auch so einschläft." Ich fühle mich ja auch viel ruhiger, seit ich neben diesem blinkenden "Wir verwöhnen sie mit Massagen und vieles mehr"-Etablissement wohne, es genügt ja, es in Reichweite zu haben, man muß dann gar nicht mehr hingehen, um einschlafen zu können.

Am Eingang seiner Wohnung wird der Herzog von zwei Verwandten abgepaßt, die ihm die Nachricht vom Tod seines Vettern bringen, der er bis hierhin ja sehr geschickt ausgewichen war. Jetzt gibt es eigentlich kein Entkommen, er ist zum Trauerschieben verdammt. Aber er reagiert geistesgegenwärtig, in der Art der nordkoreanischen Führungsriege nach dem Tod des geliebten Führers Kim Il-Sung: "Er ist tot! Aber nein. Das ist bestimmt übertrieben!" Der Herzog läßt sich von seinem Kostümball nicht abbringen, zu dem es später ja noch gehen soll. Ich frage mich, woher diese Herrschaften ihre Kondition nehmen, es ist 23:45, sie kommen gerade von einer Soiree nach Hause und gehen gleich anschließend zu einem Kostümball?

Zuhause erwartet Marcel jede Minute Albertine, eigentlich sollte sie ja schon da sein, er hatte sie doch herbestellt. "Ich war entsetzlich beunruhigt, da mir Albertines Besuch jetzt um so wünschenswerter schien, je weniger sicher er war." Denn sie ist noch nicht da, und das alte Muster greift wieder, jemand entzieht sich, und er spielt verrückt. Er kann nur warten und ist damit schon der Dumme, wie Roland Barthes schreibt: "Die fatale Identität des Liebenden ist nichts anderes als dieses ich bin der, der wartet." Trifft Albertine ein, so wird die Concierge den Lichtschalter für die Treppe bedienen, er muß also nur auf den Streifen gedämpftes Licht schauen, den die zu kleine Scheibengardine der Glastür der Wohnung hereinfallen läßt. In diesem Moment "...bereitete mir die mögliche Entziehung eines einfachen physischen Genusses ein grausames seelisches Leiden." Es ist dasselbe Schmerzmuster, wie früher, wenn Gilberte zu kommen zögerte. Das Telefon steht bereit, dessen Klingeln, damit es die Eltern nicht stört, durch ein Schnarren ersetzt worden ist. "Aus Furcht, es nicht zu hören, rührte ich mich nicht. Meine Unbeweglichkeit war so vollkommen, daß ich zum ersten Mal seit Monaten das Ticktack der Wanduhr wahrnahm." Jede Errungenschaft der Technik kleidet unser Leid auch in ein neues Gewand: auf einen Brief wartet man nur zu den Zeiten der Brieflieferung, auf einen Anruf kann man den ganzen Tag über warten, mit einem Handy sogar an jedem Ort der Welt. Die Voraussetzungen für unglücklich Verliebte, sich zu quälen, werden immer besser.

Als Françoise hereinkommt und etwas Belangloses zu ihm sagt, muß er fürchten, das Telefon nicht schnarren zu hören, und es "...wirkte, wie mir wohl bewußt war, mein Gesicht so unglücklich, daß ich behauptete, ich verspüre rheumatische Schmerzen, um das Mißverhältnis zwischen meiner angeblichen Gleichgültigkeit und meinem leidenden Ausdruck zu erklären..." Und das alles wegen "der gleichen Albertine, an die ich während der Soiree bei den Guermantes keine drei Minuten gedacht hatte."

Aber "als ich auf dem Kulminationspunkt eines martervollen Anstiegs in den Spiralen meiner einsamen Angst angekommen war", schnarrt es doch noch unverhofft, Albertine ist am Apparat. Er unterdrückt seine Freude und fragt in möglichst gleichgültigem Ton: "Kommst du noch?" "Eigentlich... nein, wenn du mich nicht absolut noch brauchst." Diese Frau weiß, wie man sich einen Platz in der Weltliteratur sichert.

Unklares Inventar – Ein königlicher Zelter.

  • Cicisbeo.

Verlorene Praxis: - "Mit einem nicht unkleidsamen Ausdruck von Müdigkeit" eine Treppe ersteigen.

  • Mit einer "dumpfen Entschlossenheit, sich nicht unterbrechen zu lassen" zwanzigmal wieder da anfangen, wo man stehengeblieben ist, und damit seiner Rede "die unerschütterliche Solidität einer Bachschen Fuge" verleihen.

Selbständig lebensfähige Sentenz: - "Denn nirgends ist das Vergehen so schlecht aufgehoben wie im Geiste des Schuldigen selbst. Das ständige Bewußtsein, das er von seinem Fehler hat, hindert ihn, richtig zu ermessen, in wie großem Ausmaß darüber Unkenntnis herrscht, wie leicht eine kompakte Lüge Glauben finden würde, und andererseits sich darüber Rechenschaft abzulegen, an welchem Punkte der Wahrheit für die andern bei Worten, die er selbst für unverfänglich hält, das Geständnis beginnt."

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