Schmidt liest Proust |
Sonntag, 22. Oktober 2006
Berlin - IV Sodom und Gomorra - Seite 110-130 jochenheißtschonwer, 22.10.06, 20:39
Wenn ich wirklich etwas bewahren will, sollte ich meine Zeit nicht damit verschwenden, immer neue Texte zu schreiben, sondern lieber meine Rechnungen archivieren, die wenigstens ehrlich sind. In einer 250-Gramm-Box "first class – feinster Hochlandkaffee" aus dem VEB Kaffee- und Nährmittelwerke Halle/Saale, die sogar laut Deckel eine "Sonderfüllung Intershop" war, lagern, wie ich seit gestern weiß, seit sieben Jahren auf meinem Schreibtisch Kassenbons aus dem Jahr 2000, also aus der Zeit zwischen Euro-Einführung und 11.September. Es ist schon gruslig, manchmal erinnere ich mich nur wegen einer Taxi-Quittung an das Gesicht des Fahrers. Was passiert mit seinem Gesicht in der Zeit, in der ich mich nicht daran erinnere? Aus einem Haufen zusammengeknüllter Zettel ergibt sich eine aufschlußreiche Fieberkurve der Konsumtion: 10.1. Staatsbibliothek Potsdamer Platz, 30 Euro Kopierkosten. Ich hatte mein Job als studentische Hilfskraft noch und hatte den Auftrag, für meinen Professor ein Backup des Buchbestands der Staatsbibliothek zu erstellen. Dabei starrte ich müde in das aufblitzende Licht des Kopiergeräts und stellte mir vor, es seien die Blitzlichter der Weltpresse. 27.1. Berlin-Stuttgart-Tübingen. Die erste und auch schon schrecklichste Lesereise, auf spätere Enttäuschungen ist man besser vorbereitet gewesen. Ein Preis mußte abgeholt und im Rahmen dessen unter Tarif vor Ort gelesen werden. An zwei Tagen hintereinander dieselben Texte der anderen Preisträger anhören und sich die ganze Zeit fragen, warum sie den Preis durch sechs und nicht, wie in den anderen Jahren, wenigstens durch drei geteilt hatten. 14.2. 10 Meter Antennenkabel bei Medi-Max. Offenbar ein Trostkauf. Ich hatte mir eine Schüssel geleistet und eine Weile nur noch obskure ausländische Fernsehsender auf Hotbird geguckt. Es war faszinierend, Telefonsexwerbung auf arabisch, ich höre noch das hingehauchte "cifr cifr" aus den Telefonnummern, ich glaube, das heißt "null". Ich habe sogar mal einen Text über diese Erfahrung geschrieben, ein paar Jahre später wurde daraus ein Comedy-Format, allerdings nicht meins. 18.2. A-Z am Alexanderplatz, CPU-Kühler für 29,99. Den A-Z gibt es nicht mehr (so wie den Plattenladen, der in der DDR dort gewesen war, und in dem ich einmal in der Woche einen Kontrollgang machte.) Mich hatte der laute Ventilator an meinem Rechner gestört, und jemand hatte mir gesagt, daß der Rechner kaputtgehen kann, wenn ihn, wie ich, einfach abklemmt. 25.2. 13:47 Uhr, 11,23 Euro, Buchhandlung Warschauer Straße, modernes Antiquariat. Ein unscheinbarer Posten, aber es war ein Freitag, ich muß also nach der "Chaussee" im Friedrichshain übernachtet haben, was im ersten Jahr noch vorgekommen ist. Am Tag danach war man immer tief deprimiert. Wenn es gut gelaufen war, aus Angst, es nie wieder so gut hinzubekommen, und wenn es schlecht gelaufen war, aus Scham. Aber eine Scham, die ungefähr 11,23 Euro kostete. 8.4. München, Alte Pinakothek 34,00 DM, sicher der Katalog. Besuch beim Verlag? Ich weiß nur noch, wie die Dielen geknarrt haben, und daß das bis heute der einzige tröstliche Sinneseindruck in München geblieben ist. 14.4. In den Schönhauser Allee-Arkaden beim Verkäufer Herrn Syskowski ein Ilford Plus 125, schwarz-weiß. Offenbar hatte ich damals noch Ambitionen und es gab keine Digitalkameras. Ich muß direkt mal im Kühlschrank gucken, ob der Film noch da ist. Der Entwickeltisch steht in der Kammer, er hatte mir nach einem einzigen Versuch immerhin lange als Klorollenhalter gedient. 3.5. Kopiertechnik Lapacz, Kastanienallee. 558,30 Euro für Kopien. Die erste Brillenschlange, 500 Stück selbst gesetzt, kopiert, geknickt, geheftet und verkauft. Vom ersten Heft wird mir immer in Erinnerung bleiben, daß eine Freundin, als ich direkt nach der Herstellung stolz damit ankam, kein Interesse zeigte, es mir für 3 Euro abzukaufen. Hätte ich es verschenken sollen? 5.5. Berlin-Heidelberg-Berlin. "Frühlingsnacht der Poesie" im "Deutsch-Amerikanischen-Institut". Ich sollte "etwas leicht erotisches" lesen, aber meine Eltern saßen im Publikum. Im anschließenden Zeitungsartikel wurde ich als "Jungspund" bezeichnet. 8.5. Dussmann, "Ausweitung der Kampfzone", mein erster Houellebecq, so lange ist das schon her. Ein klarer Trostkauf. 26.5. Ein Einschreiben nach Bulgarien. Das muß die offizielle Einladung für Steffka gewesen sein. Damals brauchte sie noch ein Visum, und ich mußte bei der Polizei garantieren, daß ich alle eventuell anfallenden Gesundheitskosten übernehmen würde. Der Brief ist nie angekommen, vielleicht war ja jemand anders auf meine Einladung hin in Deutschland. 29.5. Kaufhof am Alex "Kaiser 5 Team" für 139,95. Fußballschuhe? 2.6. Ein McCloud-Trekkingrad. Mein zweites Westrad. Im Fahrradladen auf der Schönhauser ist jetzt ein Friseur. 10.6. H&M eine Hose und Hemden für 137,50. Schon der dritte Trostkauf in 2 Wochen. Aber vielleicht auch Selbstbelohnung, weil ich die Fahnen für "Triumphgemüse" durch hatte? 21.6. Bei AZ in der Stresemannstraße, wo wir uns alle nach dem Mauerfall unsere 2-Mark-Armbanduhren gekauft hatten, ein Fahrrad-Frontlicht "3Fun". Den Laden gibt es nicht mehr. 14.7. Zwei Herrenjeans bei H&M für 59,90 und 39,90. Das muß die Zurüstung für den im August anstehenden Moskau-Monat gewesen sein. Ich hatte aus dem Monat im Jahr zuvor lernen wollen, wo ich auf den Cheb-Khaled-Britney-Salsa-Diskos im Wohnheim in eher strapazierfähiger Kleidung erschienen war. 1.11. Kaufhof, ein Taschenkalender. Ich nehme mal an für 2001, also doch ziemlich zeitig. Vielleicht wollte ich in Zukunft Ordnung in mein Büroleben bringen. 7.11. Eine Bahn-Quittung Berlin-Köln-Lüneburg-Berlin, die Lesetour zu "Triumphgemüse", meinem ersten Buch. In Köln 9, in Lüneburg 14 Zuschauer, also steigende Tendenz. Aus Köln auch noch 3,50 Euro Getränke und 6 Euro Telefon, vielleicht war ich noch unerfahren und dachte, man müsse das nicht selbst bezahlen. An meinem 30.Geburtstag saß ich dann anscheinend wieder im Zug nach Berlin. Sicher in dem Glauben, daß das alles nur die rührenden Anfänge einer erfolgreichen Vortragskarriere wären. 25.11. Saturn, bei Verkäufer Herr Sobotta ein Kenwood-Verstärker für 599 Euro und ein Dual-Plattenspieler für 299 Euro. Trostkauf im großen Stil. Ich hatte bis dahin als Verstärker noch unseren alten DDR-Plattenspieler mit integriertem Radio. Ein Versuch, das ausgeleierte Gummiband durch ein neues zu ersetzen (im RFT-Laden auf der Kastanienallee, inzwischen gibt es dort T-Shirts, hatten sie noch welche aus der DDR), endete damit, daß ich den Plattenspieler nicht mehr zusammengebaut bekam. Warum habe ich nicht einfach die Platten weggeworfen? Der Verstärker ist inzwischen kaputt. Das Problem waren auch eher die Boxen, die ich mal Betrügern auf der Straße abgekauft hatte. 16.12. Saturn, ein internes 56k-Modem für den PC. Der Zeitpunkt, zu dem ich zu Hause online gegangen sein muß, wie Boris Becker in seinen besten Zeiten. Vielleicht war das nötig gewesen, weil im Sommer mein Uni-Job ausgelaufen war. 22.12. Toner für 114,00. Die schreckliche Zeit mit meinem Brother-Laserdrucker. Staub, Schlieren, Papierstau, Ozon. Was sofort auffällt, wie häufig die Verkäufer in Berlin Namen slawischen Ursprungs haben. Außerdem, daß ich fast alles, was ich mir vor 7 Jahren gekauft habe, schon nicht mehr besitze. Seite 110-130 Am nächsten Tag wird es die jährliche "Garden-party" bei Madame de Saint-Euverte geben, die deshalb bei der Soiree der Prinzessin erschienen ist, um "die Parade der Truppen abzunehmen", also sicherzustellen, daß alle wichtigen Gäste zu ihr kommen werden. Oriane hat allerdings eine gute Ausrede, sie will sich endlich die Glasmalereien von Montfort-l'Amaury ansehen. Oriane ist zwar nicht übermäßig intelligent, aber sie hat Geist. Die Marquise de Citri hat nicht mal den. "Sie hatte im übrigen in sich ein solches Zerstörungsbedürfnis, daß sie, als sie ungefähr der Welt entsagt hatte, den Vergnügungen, die sie fortan suchte, nacheinander ihre furchtbare Kraft der Auflösung angedeihen ließ." Erst findet sie Beethoven habe "schon so einen Bart." Bei Wagner und Debussy "machte sie sich nicht einmal die Mühe, etwas von 'Bart' zu sagen, sondern führte die Hand nur wie ein Barbier über das Gesicht. Bald war schlechterdings alles langweilig bei ihr. 'Ist das tödlich, alle diese 'schönen Dinge'! Ach! Bilder! Das ist ja zum Verrücktwerden...[..] Schließlich erklärte sie das ganze Leben für eine unsäglich fade Angelegenheit, ohne daß man recht wußte, woher sie eigentlich den vergleichenden Maßstab nahm." Im Spiel- und Rauchzimmer starrt Charlus ein attraktives Brüderpaar an. Auch der todkranke Swann steht hier, in dessen Gesicht "unter der Einwirkung der Krankheit ganze Partien verschwunden waren, wie von einem schmelzenden Eisblock große Komplexe absinken..." Aber bevor Marcel ihn begrüßen kann, legt ihm Saint-Loup die Hand auf die Schulter, er ist für zwei Tage in Paris. Inzwischen ist er über Rahel hinweg und geht sogar so weit, statt die Tugend der Frauen zu verehren, "das Lob des Bordells anzustimmen." Er wundert sich, was für eine Liebhaberin sein Onkel, der Herzog von Guermantes, sich diesmal ausgesucht hat: "...wie alle Leute, die nicht verliebt sind, stellte er sich vor, daß man die Person, die man liebt, nach tausend Überlegungen und nach Maßgabe ihrer verschiedenen Vorzüge und Eignungen erwählt." Unklares Inventar: - Zinshahn.
Katalog kommunikativer Knackpunkte: - "Nicht nur mokierte sie sich auf einer Soiree über alle Anwesenden, sondern diese Ironie bekam etwas so Heftiges, daß bloßes Lachen nicht scharf genug dafür war, vielmehr ihr Heiterkeitsausbruch in kehliges Zischen ausartete." ... Link |
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