Schmidt liest Proust |
Mittwoch, 18. Oktober 2006
Berlin - IV Sodom und Gomorra - Seite 28-49 jochenheißtschonwer, 18.10.06, 20:01
Vieles, was man heute nicht mehr beachtet, hat man doch in der Kindheit fast als Wunder empfunden: Halbe Regenwürmer + Straßenschach + Balancieren + weiße Rechtecke an Chausseebäumen + Seifenmagnet + fleischfressende Pflanzen + Papas Pantoffeln + die theoretische Möglichkeit, Selbstgespräche zu führen + Zweihänderschwert + kleine Dreiecke am rechten oberen Bildrand, wenn in alten Filmen "die Rolle gewechselt" wurde + Galläpfel + festgetrocknete Kacke am Kuhhintern + durchsichtige Zierschaltknüppel mit eingeschlossenen Miniautos + Schnorchel + Bovist + Eier mit Hahnentritt + glitzernder Rutschbelag an Treppenstufenrändern + Boomerang + Bahnpuffer + Rolandskulpturen + Kondensstreifen + Schreibtisch mit Geheimfach + Blitzableiter + Tarzanschrei + Mäandermuster + trigonometrische Punkte + Eisen + Amerikaner mit Füßen auf dem Tisch + Bullauge + Extra-Klappsitz in der U-Bahn + Rettungsringe + Kirchenorgel mit Rückspiegel + Eisbrecher + Ameisenkönigin mit Flügeln + Schießscharten + Kerzenlöscher + Sonnenuhr + Niemandsland + Plexiglas + Sandbank + Lesebrille mit zwei Schärfen + Tandem + Blasrohr + Bahnhofswaage + Brotschneidemaschine + die in verschiedene Richtungen zeigenden Kerben zum Ablegen des Gewehrs in den Fenstern von Jagdhochständen + Weißbrot + Brandschutzschneise im Wald + hochklappbarer Motorradsitz mit Raum für Werkzeuge + Wassertreter + weiße Hundekacke + die R-Taste vom Telefon + Dietriche Fortsetzung folgt... Seite 28-49 Dieser knapp 40seitige erste Teil des vierten Buchs (der zweite Teil nimmt dann die restlichen 600 Seiten ein), scheint eine Art der Typologie der Homosexualität gewidmeter Einleitungsessay zu sein (reizvoll dabei der ständige Vergleich mit Fortpflanzungsmechanismen im Pflanzenreich.) Es hatte mich zwar nicht unbedingt nach Unterweisung auf diesem Gebiet verlangt, aber bitte, Weltliteratur ist Weltliteratur, einem großen Autor muß man folgen, egal, wohin er geht. (Wenn ich nicht so vergeßlich wäre, wüßte ich noch, wie man so einen Absatz, wie eben, in der klassischen Rhetorik nennt.) Proust beschreibt, wie sich die, die er wie Freud "Invertierte" nennt (im Original auch tatsächlich "l'inverti") in Cafés treffen und dabei, da man sich keine Blöße gibt, für Außenstehende offen bleibt, ob es sich um eine "Zusammenkunft einer Anglergesellschaft, einer solchen von Redaktionssekretären oder der aus dem Departement Indre Gebürtigen" handelt. Daneben gebe es aber auch die Einzelgänger: "...in ihrem verhältnismäßig sittenreinen Leben hat der Mangel an Erfahrung und die Sättigung durch bloße Träumerei, auf die sie angewiesen waren, stärker die besonderen Merkmale der Effeminiertheit ausgebildet, welche diejenigen, die sich im Laster zusammengefunden haben, zu verwischen bemüht sind." Ich nehme mal an, mit "Laster" ist hier nicht das Fahrzeug gemeint. Er beschreibt diese Menschen allerdings nicht unbedingt freundlich: "...wenn sie unaufhörlich von hysterischen Konvulsionen geschüttelt, mit schrillem Lachen Knie und Hände zusammenkrampfen..." (wodurch in unschöner Weise die Frau an ihnen äußerlich sichtbar werde, was als Charakterisierung nun wieder eher beleidigend für die Frauen ausfällt) "...und der Mehrheit der Menschen nicht ähnlicher sind als jene Affen mit ihren Greiffüßen und dem melancholischen und von Ringen umzogenen Blick, die einen Smoking anlegen und eine schwarze Krawatte tragen..." Mit solchen Vergleichen dürfte er sich heute schon Ärger einhandeln, da schützt ihn vielleicht nur die relative Abgelegenheit seiner literarischen Provinz. "Warum sollten wir, wenn wir in dem Gesicht dieses Mannes zarte Züge bewundern, die uns rühren, eine natürliche Liebenswürdigkeit, wie Männer sie nicht besitzen, tief betrübt sein zu erfahren, daß dieser junge Mensch Verlangen nach kräftigen Boxern trägt?" Und jetzt auch noch Seitenhiebe gegen die Männer. Seit wann besitze ich keine natürliche Liebenswürdigkeit? Manche provozierten in ihrer Jugend und bemühten sich dann ein Leben lang "das Unrecht wiedergutzumachen, das sie sich selbst zugefügt haben..." Wie jene jungen Frauen, die sich bemüht haben "...auf eine skandalöse Art und Weise zu leben, mit allem Brauch zu brechen, ihrer Familie Spott und Schande zu bereiten bis zu dem Tage, an dem sie anfangen, beharrlich und erfolglos den Abhang wieder zu erklimmen, den hinabzugleiten sie so amüsant fanden oder vielmehr einfach nicht unterlassen konnten." Nun zu den Einzelgängern, die man mit Juden in der Diaspora vergleichen könne, oder mit "jungen Löwen, die dennoch Löwen bleiben", wenn sie domestiziert wurden, oder aber mit "Schwarzen, welche dem komfortablen Dasein der Weißen, das sie zur Verzweiflung treibt, die Gefahren des Lebens in der Wildnis und seine unbegreiflichen Freuden vorziehen." In der Folge wird ganz nebenbei als reine, die Argumentation bebildernde Spielerei, ein rührendes Melodram skizziert, von der Art von "Brokeback mountain". Die Einzelgänger, "Nie zu wirklicher Reife gelangt, periodischer Schwermut verfallen, machen sie an einem mondlosen Sonntagabend einen Spaziergang bis zu einem Kreuzweg, wohin einer ihrer Kindheitsfreunde, der ein benachbartes Schloß bewohnt, ohne daß sich die beiden durch ein Wort verständigt haben, ebenfalls gekommen ist und den andern erwartet." Dort fangen sie auf dem Gras "bei den Spielen von einst wieder an, ohne ein Wort zu sagen." Bei weiteren Begegnungen bleibt das dann unter ihnen unkommentiert. Kühle, ein ironischer Ton, Reizbarkeit, vielleicht sogar Haß schleichen sich ein. "Dann bricht der Nachbar zu einem langen Ritt auf, überwindet steile Gipfel auf Mauleseln und kampiert im Schnee..." Der Verlassene gibt sich damit zufrieden "...persönlich am Morgen in der Küche den Rahm aus den Händen des Milchjungen in Empfang zu nehmen..." (Wieder einmal Rahm, wie schon im ersten Buch, wo es noch Milchmädchen waren, die Marcel begeisterten. Der Beruf dürfte heute ziemlich ausgestorben zu sein.) Der zurückgekehrte Alpinist hat inzwischen geheiratet und wird bald Vater. Es gibt keine heimlichen Begegnungen mehr, denn seine Frau begleitet ihn auf Spaziergängen, und er stößt den anderen "...wutentflammt und voller Empörung zurück..." Man sieht es direkt vor sich, man muß sich nur noch die entsprechenden Schauspieler auswählen. "Der Einsiedler schmachtet nunmehr allein dahin. Er hat kein anderes Vergnügen, als sich in das benachbarte Seebad zu begeben und dort einen bestimmten Eisenbahnbeamten um Auskunft zu bitten." Das soll ein Ersatz sein für heißen Sex in der Mondnacht, am Kreuzweg auf Gras? Er pflegt scheinbar versonnen auf dem Bahnsteig stehend einen "scheinbar gleichgültigen, zerstreuten, ja verächtlichen Blick", der aber "den fast unauffindbaren Liebhaber eines speziellen, zu schwer unterzubringenden Vergnügens, das hier angeboten wird, dennoch nicht täuschen würde." Wahrscheinlich ist das mein Fehler, ich gucke zu oft zerstreut und verächtlich, jedenfalls fühlen sich davon immer wieder Liebhaber eines schwer unterzubringenden Vergnügens angesprochen. "Der Haß der Montague und Capulet war nichts gegen die Behinderungen jeder Art, die überwunden werden mußten, gegen die speziellen Ausleseverfahren, die die Natur unter den an sich bereits wenig gewöhnlichen Zufällen, welche die Liebe herbeiführen, hatte vornehmen müssen, bevor ein ehemaliger Westenmacher, der gerade brav in sein Büro gehen wollte, geblendet vor einem zur Korpulenz neigenden Fünfzigjährigen kokett umherschwänzelte; dieser Romeo und diese Julia können mit gutem Grunde glauben, daß ihre Liebe nicht nur die Laune eines Augenblicks, sondern etwas wahrhaft Prädestiniertes ist, vorbereitet duch die Übereinstimmung ihrer Temperamente, und sogar nicht einmal nur ihrer eigenen Temperamente, sondern schon durch die ihrer Vorfahren, durch eine von weit her überkommene Erbschaft, so daß das Wesen, das sich mit ihnen vereint, ihnen schon vor der Geburt angehört und sie angezogen hat durch eine Macht, vergleichbar der, welche die Welten regiert, die der Schauplatz unserer früheren Existenzen gewesen ist." Für Marcel scheint durch das Wunder solcher Zufälle an der beobachteten Begegnung von Charlus und Jupien "alles in Schönheit getaucht". Charlus erläutert Jupien seine Gepflogenheiten. Er muß gar nicht bei jedem "zur Sache" kommen. "Bei manchen Individuen genügte ihm tatsächlich, sie kommen zu lassen und sie ein paar Stunden lang unter dem Zwang seiner Rede zu halten, damit sein bei irgendeiner Begegnung entzündetes Verlangen Befriedigung fand." In "Sommer vorm Balkon" nannte die hübsche Blonde solche Männer, mit denen sie nichts zu tun haben wollte, "Verbalficker". "Manchmal, so wie es zweifellos mit mir der Fall gewesen war an jenem Abend, da er mich nach dem Diner bei der Herzogin von Guermantes zu sich entboten hatte, fand die Befriedigung in Gestalt einer heftigen Strafpredigt statt, welche der Baron dem Besucher ins Gesicht schleuderte, so wie manche Blüten dank einer Schnellkraft in ihrem Innern aus einer gewissen Entfernung das Insekt bestäuben, das dadurch unbewußt ihr verblüffter Partner wird." Erinnert mich an die Geschichte, die ich neulich gehört habe, daß man im Kitkat-Club nicht allein aufs Klo gehen solle, weil man sonst "angespritzt" werde. Sicher auch verblüffend, so aus der Entfernung bestäubt und unbewußt zum Partner gemacht zu werden. Unklares Inventar: - "bei Potin" kaufen.
Verlorene Praxis: - In einer mondlosen Nacht an einem Kreuzweg einen Kindheitsfreund treffen, der ein benachbartes Schloß bewohnt.
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