Schmidt liest Proust
Dienstag, 17. Oktober 2006

Berlin - IV Sodom und Gomorra - Seite 1-28

In dem Zeitungsartikel wurden Zählzwang, Sammelzwang, Wiederholungszwang und Ordnungszwang erwähnt. Also mit anderen Worten:

  1. Zählzwang
  2. Wiederholungszwang
  3. Ordnungszwang
  4. Sammelzwang

Das ginge natürlich auch ordentlicher:

  1. Ordnungszwang
  2. Sammelzwang
  3. Wiederholungszwang
  4. Zählzwang

Oder lieber nach Wortlänge, das sieht schöner aus:

  1. Zählzwang
  2. Sammelzwang
  3. Ordnungszwang
  4. Wiederholungszwang

Habe ich einen vergessen? Ich gucke lieber nochmal, wäre doch schön, wenn ich noch mehr fände. Aha, gut, daß ich nochmal geguckt habe: "Psychosoziale Kontrollzwänge" hatte ich übersehen. Also nochmal von vorn (hoffentlich kriegt keiner mit, was ich hier mache):

  1. Zählzwang
  2. Sammelzwang
  3. Ordnungszwang
  4. Wiederholungszwang
  5. Psychosoziale Kontrollzwänge.

So macht es Spaß, alles perfekt. Also gleich nochmal eintippen, ein bißchen Zeit hab ich ja noch, bevor ich zur Gruppenarbeit muß:

  1. Zählzwang
  2. Sammelzwang
  3. Ordnungszwang
  4. Wiederholungszwang
  5. Psychosoziale Kontrollzwänge.

Einmal kann ich noch, bevor ich losmuß. Aber ich muß mir auch noch die Hände waschen. Und wenn ich drauf verzichte? Es zwingt mich ja keiner. Aber es geht ja ganz schnell. Aber die beiden Seifenstücken sind gerade genau gleich groß, das krieg ich nie wieder so hin.

Seite 1-28 Ein etwas dubioses Verfahren, zum Beginn des neuen Buchs wird eine Begebenheit nachgeschoben, die Marcels Besuch bei Charlus doch in einem ganz anderen Licht erscheinen läßt. Denn bevor er zu den Guermantes gegangen war, hatte er sich ja auf Beobachtungsposten im Hausflur befunden, und nicht nur die schöne Hinterhoflandschaft genossen, sonder er war, wie wir nun erfahren, auch Zeuge einer sehr verstörenden oder auch erhellenden Szene geworden. Das ist alles so wichtig, daß es sich kaum zusammenfassen läßt. Marcel hatte nämlich Charlus gesehen, der von einer Krankenvisite bei Madame de Villeparisis kam und den Hof überquerte. Er machte sonst nie um diese Zeit Besuche, er war nur hier, weil die Madame krank war. Das folgende steht also ganz im Zeichen des Zufalls. Charlus "dicklich, bei hellem Tageslicht sichtlich gealtert und mit ergrauendem Haar", der sonst immer solchen Wert auf seine Härte legt und alle anderen viel zu weibisch findet, wirkt plötzlich, da er sich ganz unbeobachtet meint, mit seinen Zügen, seinem Ausdruck und seinem Lächeln, wie eine Frau.

Er begegnet dem Schneider Jupien, und wie in der Natur, wo die seltene Blüte das noch seltenere Insekt braucht, um sich fortzupflanzen, und wo beide sich sofort erkennen, sehen sich die beiden eigenartig an. Charlus, der "die Lider weit öffnete", und Jupien, der "wie angenagelt, ja pflanzengleich angewurzelt stehenblieb". So führen sie eine "Doppelpantomime" auf. Charlus legt in seine Blicke, in der Art der Beethovenschen Motive, ein "dringliches Heischen". Schnell "schien der Bund geschlossen und dies nutzlose Blickgeplänkel nur ein rituelles Vorspiel zu sein." Das Männchen Charlus hat den ersten Schritt getan, und das Weibchen Jupien behält das Männchen im Auge, ohne zu handeln, weil es das "wahrscheinlich für um so betörender und einzig zweckmäßig hielt und sich einfach nur die Federn glättete." Durch Zufall ist der ältere Herr Charlus in Jupien auf einen Menschen gestoßen "der vom Schicksal im voraus ausersehen ist, damit auch diese ihren Anteil an den Wonnen der Erde erhalten: den Mann, der einzig die alten Herren liebt." Natürlich begreift Marcel das alles erst viel später "so sehr steht der Wirklichkeit die Fähigkeit zu Gebote, sich unsichtbar zu machen..."

Die beiden verschwinden in Jupiens Werkstatt, und Marcel pirscht sich in fast schon leichtsinniger Weise heran, wobei ihm seine Lektüren von Berichten über Forschungsexpeditionen und Reisen zugute kommen. "Wenn Anfälle mich gezwungen hatten, mehrere Tage und Nächte nacheinander nicht nur schlaflos zu verbringen, sondern auch ohne daß ich mich ausstrecken, Nahrung zu mir nehmen oder etwas trinken konnte, dachte ich, wenn Erschöpfung und Leiden mir derart zusetzen, daß ich kein Ende abzusehen meinte, an irgendeinen Reisenden, der ans Gestade geworfen wird, wo er, von unzuträglichen Kräutern vergiftet, in seinen vom Meerwasser getränkten Kleidern unter Fieberschauern erbebt, sich aber dennoch nach zwei Tagen besser fühlt und seinen Weg ins Ungewisse fortsetzt auf der Suche nach Bewohnern, die vielleicht Menschenfresser sind. Sein Beispiel stärkte mich, gab mir die Hoffnung zurück, und ich schämte mich meiner Regung vorübergehender Mutlosigkeit." Das geht natürlich auch in die andere Richtung, wenn man sich vorstellt, wie unvergleichlich besser es andere haben.

Marcel hört vom Nachbarraum "unartikulierte Laute". "Allerdings waren diese Töne so stark, daß ich, wären sie nicht immer wieder eine Oktave höher von einer parallel verlaufenden Klage aufgegriffen worden, hätte meinen können, neben mir erwürge eine Person eine andere, hinterher aber nähmen der Mörder und sein wiedererstandenes Opfer ein Bad, um die Spuren des Verbrechens gründlich abzuwaschen." Die Folge dessen, was sich dort abspielt, schließt er, muß in jedem Fall "unmittelbares Bedachtsein auf Säuberung" sein.

Nachdem sie wieder ans Licht getreten sind, erkundigt sich Charlus etwas unsensibel bei Jupien nach Brüdern im Geiste aus der Nachbarschaft. Er sucht noch einen Omnibusschaffner, der ihm die Langeweile auf den langen Fahrten nehmen könnte, die er manchmal unternimmt, wenn er einem Unbekannten unbemerkt in eine absurde Gegend folgt. Wenn diese Person umsteigt "...ergattere ich vielleicht gleichzeitig mit einer Ladung Pestmikroben diese unmögliche Sache, die man als 'Anschluß' bezeichnet, eine Nummer der Straßenbahn und, obwohl für meine Person bestimmt, nicht einmal Nummer eins!" Richtig, das war mir noch nie aufgefallen, daß man ständig Bahnen und Busse benutzt, die der Nummer nach einen ganz niederen Rang haben. In Zukunft steige ich, egal in welcher Stadt ich mich befinde, nur noch in Straßenbahnen der Linie 1!

Charlus erklärt Jupien, was er bei den jungen Männern sucht. Gar nicht immer, daß er sie physisch berührt, sondern psychisch: "Wenn ein junger Mann erst einmal, anstatt meine Briefe unbeantwortet zu lassen, mir unaufhörlich schreibt, mir psychisch völlig hörig geworden ist, habe ich meine Ruhe oder vielmehr hätte sie, wenn ich nicht sehr bald von einem anderen in Anspruch genommen würde." Im Moment habe ihm ein seltsamer Bursche den Kopf verdreht, "ein gescheiter kleiner Bürgerlicher, der mir mit fabelhafter Unhöflichkeit gegenübertritt. Er hat gar kein Gefühl dafür, was für eine eminente Persönlichkeit ich bin und was für ein mikroskopisches Urtierchen er selbst im Vergleich dazu ist." Das ist der Stoff, aus dem narzißtische Kränkungen geschaffen werden, und der unhöfliche junge Bürgerliche Marcel dürfte aufhorchen. Tatsächlich fällt es ihm wie Schuppen von den Augen, und es erklärt sich "...rückblickend auch der jähe Wechsel in seinen Beziehungen zu mir..." Aber woher weiß er überhaupt, wovon die Rede ist? Etwa auch aus den Expeditionsberichten, die er gelesen hat?

Er wußte also schon, daß er Charlus den Kopf verdreht hatte, bevor er zu ihm ging. Man erinnert sich, mit welcher Vorfreude er zu ihm gefahren ist, und wie getroffen er von dessen wütenden Vorhaltungen war. Die Zylinderstampfszene wird dadurch noch eigenartiger, ich hoffe, ich werde hier in den nächsten Wochen nicht gezwungen sein, Dinge zu kolportieren, für die mir noch die Worte fehlen.

Verlorene Praxis: - Während der Renovierung seines Stadthauses, um Eifersucht zwischen den Herzoginnen zu vermeiden, die sich die Ehre streitig machen, einen bei sich zu beherbergen, ein paar Tage in einem Hotel logieren.

Verschollenes Wissen: Die Kathedrale von Orléans ist die häßlichste von ganz Frankreich. (Sagt Baron de Charlus)

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