Schmidt liest Proust
Montag, 9. Oktober 2006

Berlin - III Die Welt der Guermantes - Seite 544-567

Irgendwie leide ich immer noch unter der Vorstellung, damals für unseren ersten gemeinsamen Kinobesuch nur den falschen Film ausgesucht zu haben, sonst hätte sie sich vielleicht nicht so bald schon wieder von mir getrennt. Seitdem gucke ich alle Filme zuerst allein, und dann mit der zu Beeindruckenden, und zwar mit ihr in der Reihenfolge meiner Vorlieben, also erst die, die mir gar nicht gefallen, bis sie schließlich reif ist für "Buffalo 66".

Oft bin ich froh, etwas allein zu sehen, weil es der zu Beeindruckenden sowieso nicht gefallen würde, z.B. gestern in "Thumbsucker". Die Lautsprecher rauschten, der Ton war falsch eingestellt, schade, daß ich nicht meinen Bekannten S. dabei hatte, den solche Dinge immer so sehr stören, daß er sich auf nichts mehr konzentrieren kann. Man selbst wird dadurch ganz ruhig. So ein Neurastheniker ist eine Art Entstörungsdienst für alle anderen.

In dem Film ging es wieder einmal um eine dysfunktionale Familie, gar nicht schlecht, aber man fühlt sich langsam wie das alte Rom, gute Kultur reicht nicht mehr, man ist schon so satt. Als die Mutter die Füße auf den Schreibtisch legt, fiel mir ein, daß wir das schon als Kinder an den Amerikanern bewundert hatten. Danach fiel mir ein, daß ich in meiner Jugend nie über den Rasen gelatscht bin, nie meine Füße auf die S-Bahn-Sitze gelegt habe, Rollstuhlfahrern immer anbot, sie den Berg hochzuschieben, und einen Großteil meiner Zeit mit dem Schleppen fremder Kinderwagen am S-Bahnhof Buch verbracht habe.

Der Zahnarzt, der den jugendlichen Helden im Film immer therapieren will: "Mit traditioneller Zahnmedizin sind mir irgendwo Grenzen gesetzt." Er erklärt ihm das Verhalten seiner eigenartiger Freundin: "Sie ist verlassen worden und sucht sich einen wie dich, der ihr nie wehtun würde." Mit solchen Weisheiten geht man dann durchs Leben und läuft überall auf.

Als die Psychopharmaka anschlagen, sagt der Held begeistert: "Ich fühl mich so wie ich. So hab ich mich noch nie gefühlt!" Später zieht er nach New York und rennt durch die Straßen, und es kann einfach keine andere Stadt auf der Welt geben, in der man beim die Pubertät abschließenden durch die Straßen rennen so frei aussieht.

Seite 544-567 Der "Geist der Guermantes" verlangt eine eingehendere Betrachtung, schließlich handelt es sich um ein vages Phänomen, das eigentlich nur der richtig erfassen kann, der selbst darüber verfügt. Warum ist der Salon der Madame de Guermantes der erste im Faubourg Saint-Germain, und bei der Prinzessin von Parma, die doch versucht, Oriane de Guermantes in allem zu kopieren, kam es "...immer wieder einmal vor, daß sie den ganzen Tag mit einer Hofdame und einem ausländischen Legationsrat allein blieb." Es ist "das komische, gefährliche, aufregende Element [..] das man als den Geist der Guermantes bezeichnete [..] Der Geist der Guermantes [..] war eine Qualitätsbezeichnung wie 'Fleischpasteten aus Tours' oder 'Biscuits aus Reims'."

Die Kunst, einen Salon zu führen, liegt darin, seine Besucher sorgfältig auszuwählen. Es ist anstrengend genug, wenn man eine lange Liste von Personen hat, die man regelmäßig besuchen muß, da muß man sparsam mit Neuaufnahmen sein. Für Oriane zählen dabei die üblichen Verdienste nichts: "Da die Tatsache, daß jemand ein Staatsmann erster Ordnung war, bei der Herzogin keineswegs eine Empfehlung bedeutete, waren diejenigen ihrer Freunde, die auf eine zivile oder militärische Laufbahn verzichtet oder nicht für die Kammer kandidiert hatten, der Meinung, sie hätten, wenn sie täglich zu ihrer großen Freundin zum Frühstück kamen und mit ihr plauderten, sie bei irgendwelchen Hoheiten trafen, die übrigens – wenigstens behaupteten sie es – von ihnen wenig geschätzt wurden, das bessere Teil erwählt, wenn auch ein gewisser melancholischer Zug, den sie inmitten allgemeiner Fröhlichkeit doch behielten, ein wenig die Wohlbegründetheit dieses Urteils in Zweifel zu stellen schien." Wenn einen nicht die üblichen Verdienste qualifizieren, bleiben die Auswahlkriterien völlig undurchsichtig: "Kein offizieller Titel kam in diesem Milieu dem Zauber gewisser Bevorzugter der Herzogin gleich, welche die mächtigsten Minister nicht in ihren Kreis zu ziehen vermocht hätten." Es gibt aber zumindest Anhaltspunkte, was einen qualifizieren könnte. Tatsache ist, "...daß die Herzogin von Guermantes über alles übrige nicht die Gescheitheit stellte, sondern das, was sie als eine überlegenere, erlesenere Form einer in Worten sich erfüllenden Spielart des Talents bezeichnete – den 'esprit'." In jedem Fall muß das Talent sich in Worten erfüllen, man wird also witzig sein und im Gespräch spontane Einfälle haben müssen, um geladen zu werden. Wobei "der Geist der Guermantes anspruchsvolle, lange Reden sowohl des ernsten wie des komischen Genres als unerträglich abtat." Damit sind wir natürlich mitten in Frankreich, wo man sich, wie Voltaire, sein Heftchen mit Bonmots durchliest, bevor man sich unter Leute begibt. Wer etwas ernst meint, macht sich lächerlich.

Oriane selbst ist eine Meisterin in der Kunst der "Imitationen", also Personen zu karikieren Der Gegenclan der Courvoisier hat für so etwas keinen Sinn, man hat dort einfach nicht "die Feinheit des Gehörs", um überhaupt die Eigenheiten an jemandem zu erkennen, geschweige denn, ihn imitieren zu können. Für die Courvoisiers ist der Esprit Orianes ein Schreckgespenst, weil sie ihn zwar einerseits nicht haben, aber andererseits wissen, zu welchen gesellschaftlichen Erfolgen er ihr verhilft. Wenn Oriane auftritt, treten sie den Rückzug an, um ihrem Erfolg nicht beiwohnen zu müssen.

Herzog und Herzogin gehen dabei vor, wie "die Frau von Geist und ihr Impresario", wenn der Herzog auf vorgeblich tadelnde Art ihre neuesten Aperçus und Pointen zur Sprache bringt, damit sie noch einmal wiederholt werden und noch lange nach dem Abgang der beiden ihre Wirkung tun, weil alle davon sprechen.

Zwischenfälle, die den Courvoisier peinlich sind - für seine Gäste einen Stuhl zu wenig zu haben, oder einen Namen zu verwechseln -, nimmt die Madame de Guermantes, wenn sie ihr unterlaufen, "zum Anlaß für Erzählungen, über die alle Guermantes bis zu Tränen lachten, so daß man die Erzählerin beinahe darum beneiden mußte, daß sie nicht genug Stühle gehabt, irgendein Versehen in der Rede selbst begangen oder von ihren Bedienten hatte begehen lassen..." So, wie man Schriftsteller nur beglückwünschen könne, von Frauen gedemütigt zu werden, weil sie das anspornt und ihnen Stoff für ihre Werke gibt.

Den Courvoisier fehlt zudem die Fähigkeit "in das Leben der Gesellschaft eine Erneuerung zu bringen", über die Oriane mit ihrem Sinn für Modernität verfügt. Sie laden ihre Gäste gemäß "einer Art von geometrischen Beweisführung" ein, was zu den langweiligsten Ergebnissen führt. Wenn man für einen Besuch einer bestimmten Prinzessin alle Nicht-Bonapartisten ausschließt, trifft die Prinzessin bei Madame de Courvoisier "...nur irgendeine Witwe eines ehemaligen kaiserlichen Präfekten" oder andere "fatale Vogelscheuchen" an, während ihr bei Oriane ein mit Takt und Fingerspitzengefühl zusammengestelltes "anmutiges Bouquet" von Menschen geboten würde, auch wenn diese nicht der Familie des Königs angehörten.

Dabei wächst sich dieser Widerspruchssinn bei Oriane so weit aus, daß sie in der Konversation an einer "krankhaften Sucht nach willkürlichen Neuerungen" leidet, immer auf der Jagd nach einem neuen "schmackhaften Paradox". Darin ähnele sie den Literaturkritikern, die sich ja auch darauf beschränken, jeweils "das Gegenteil der von ihren Vorgängern erkannten Wahrheiten zu predigen...", nur um zu überraschen. "Ich wußte, daß nicht nur mit Bezug auf die säkularen Werke in ihrer langen Folge durch die Jahrhunderte hindurch, sondern auch innerhalb eines und desselben Werkes die Kritik Vergnügen darin findet, Partien ins Dunkel hinabzustoßen, die so lange strahlend dagestanden hatten, und andere heraufzuholen, die ewiger Finsternis anheimgegeben schienen." Im Charakter solch eines Milieus findet man natürlich viel von unserer Zeit, mit ihrer krankhaften Überraschungssucht wieder. Autoren werden bejubelt und dann von denselben Kritikern verstoßen, nur damit man sich mit einem überraschenden Urteil hervortut, obwohl das dann natürlich am wenigsten überrascht. Aber auch individuell, die Selbstdefinition über paradoxe Urteile, die dem Überraschten ganz neue Horizonte zu eröffnen scheinen. Ich habe einmal erlebt, wie jemand am Sonntagvormittag sich an der Idee begeisterte, in ein Schwimmbad im Osten zu fahren, um zwischen den Kindern und Rentnern ins Wasser zu springen. Was für eine überraschende, paradoxe Idee für jemanden, der gerade mit seinem Porsche angerauscht gekommen und die Nacht auf einer Party in der Grunewalder Villa eines Edel-Journalisten zugebracht hatte. Ich konnte dann gar keine Begeisterung heucheln über die spielerische Idee, mit Rentnern zu baden, mir hätte es vielleicht auch Spaß gemacht, wenn es nicht als Spiel gemeint gewesen wäre. Es tut mir immer leid, solchen Menschen ihre Stimmung zu zerstören, ohne die sie in ein tiefes Loch der Selbsterkenntnis fallen müssen.

"Verdorben durch die Nichtigkeit des Lebens in der Gesellschaft, waren Geist und Empfindungsfähigkeit bei Madame de Guermantes allzu flackernd geworden, als daß nicht Abneigung sehr schnell bei ihr auf übermäßige Begeisterung folgte..." Sie ist darin wie Neurastheniker "...die rasch ermüden und nach Wechsel verlangen." Nur ihrem Mann kann das nichts anhaben: "Er allein hatte sie niemals geliebt; in ihm, der gleichgültig gegen alle ihre Launen, nichtachtend ihrer Schönheit gegenüber, von einem heftigen Willen beseelt war, den nichts zu beugen vermochte, was sie auf einen jener eisernen Charaktere gestoßen, unter deren Herrschaft nervöse Menschen eine Art von Beruhigung finden." Das eröffnet natürlich ganz neue Horizonte bei der Partnerwahl. Anders, als man denken sollte, braucht man für sein Glück jemanden, der einen nicht versteht, sich einem nicht unterordnet, sich in nichts von einem beeinflussen läßt, und einen nicht liebt.

Verlorene Praxis: - Gähnen, oder Zeichen von Ungeduld geben, wenn man durch die Unüberlegtheit einer Gastgeberin einen Langweiler als Tischnachbarn erhalten hat.

Katalog kommunikativer Knackpunkte: - Als ihr ein Bonmot berichtet wird, reißt die Prinzessin "...in einer Bewunderung 'a priori' weit die Augen auf, in denen gleichzeitig die flehentliche Bitte um eine zusätzliche Erklärung lag."

Selbständig überlebensfähige Sentenz: - "...wir sind manchmal viel zu sehr geneigt zu glauben, daß die gegenwärtigen Voraussetzungen für einen Stand der Dinge die einzig möglichen seien."

  • "...die Kathedralen genossen in den Augen eines im siebzehnten Jahrhundert lebenden frommen Christen weit weniger Ansehen als bei einem Atheisten des zwanzigsten..."
  • "Die Herzogin von Guermantes, deren Stimmung jeweils absank, wenn von der Schönheit einer anderen Frau die Rede war, ließ das Thema fallen."

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