Schmidt liest Proust
Sonntag, 8. Oktober 2006

Berlin - III Die Welt der Guermantes - Seite 521-544

Neulich hat jemand behauptet, in Japan gebe es eine neue psychische Erkrankung, deren Symptom es sei, daß der Betroffene sich nicht mehr aus dem Haus zu gehen traue, aus Angst, draußen jemanden zu beleidigen. Das heißt doch, daß nur noch die unsensiblen Grobiane auf die Straße gehen, wie bei uns. Ich gehe ja aus anderen Gründen nicht mehr aus dem Haus, weil ich Angst habe, von niemandem bemerkt zu werden. Vielleicht ließe sich diese Angst therapieren, aber ich gehe auch nicht zur Psychoanalyse, aus Angst vor der Inneneinrichtung des Therapeuten. In einer Freud-Ausstellung waren neulich Fotos der Therapiesofas Dutzender Berliner Psychoanalytiker zu sehen gewesen. Die Konfrontation mit so einem scheußlichen Sofa muß so enttäuschend sein, daß man, alleine um das zu verarbeiten, wieder Jahre brauchen dürfte. Jeder einzelne dieser Räume sah unendlich abstoßend aus, vom Arzt-Wartezimmer mit Fischgrat, bis zur geheuchelten Privatatmosphäre mit Bücherwand und Lithographien. Natürlich wäre es unvernünftig, seinen Therapeuten nach seiner Inneneinrichtung auszuwählen. Auf die Art findet man vielleicht nie einen Therapeuten. Dann hat man irgendwann sein halbes Leben hinter sich, und wartet immer noch auf den Märchentherapeuten. Die große Therapie ist aber ein Mythos. Eine Therapie kann sich auch auf Vernunft begründen. Man muß natürlich an seiner Therapie auch arbeiten. Wer nicht bereit ist, Kompromisse zu machen, wird womöglich untherapiert sterben. Wichtig ist doch, daß man immer ehrlich zueinander ist.

Seite 521-544 Endlich kann man zu Tisch. Das "imponierende Uhrwerk aus mechanischen und menschlichen Impulsen" wird auf einen Wink des Herzogs in Gang gebracht. Die Türen zum Speisesaal öffnen sich, die Madame führt Marcel an seinen Platz "...als Jägerin, deren Anmut durch große Muskelkraft besondere Leichtigkeit bekommt, vollzog sie, offenbar bei der Feststellung, daß ich auf der falschen Seite sei, eine so genau abgemessene Wendung, daß ich ihren Arm im Rahmen eines ganz natürlich sich ergebenden Rhythmus sicherer, edler Bewegungen auf dem meinen fand." Daß man von der Jagd Muskelkraft bekommt, erstaunt ja erst einmal. Ich erinnere mich an "Ochota und Rijbalka", den russischen Jagdkanal, dort waren eher behäbige Männer zu sehen gewesen, die im Wald auf Hockern vor ihren gewaltigen, nagelneuen Geländewagen saßen und getrockneten Fisch verzehrten. Man erinnert sich aber, daß der Adel ja ursprünglich einmal dazu herangezüchtet worden war, Heere zu führen, also sportlich sein mußte. Der Fürst von Monaco soll ja ein guter Bobfahrer sein, vielleicht ist das gemeint.

Die komplizierte Etikette in der Welt des Adels, die Frage, wer das Recht genießt, von wem die Hand gereicht zu bekommen. Das muß alles geklärt sein, bevor man sich begegnet. Zur Zeit Ludwigs des XIV. sei es vorgekommen, daß ein Kurfürst einen Herzog zwar zum Essen empfing, sich aber krank stellte, so daß er im Bett essen konnte, womit er zwar mit ihm gegessen hatte, ihm aber nicht die Hand geben mußte. Man ist einerseits "ein Sklave der kleinsten formellen Verpflichtungen", hält sich aber andererseits nicht lange mit der Trauer auf, wenn der eigene Bruder stirbt. Das ist "...jene dem Hofleben unter Ludwig XIV. eigentümliche Verbildung [..] durch welche Gewissensskrupel aus dem Bereich der Gefühle und der Moral in die Sphäre des Protokolls verlagert worden sind." Das hat aber auch etwas schönes, so ein Triumph über den Tod. Man übernimmt eben selbst die Regie.

Die Guermantes sind direkte Erben dieser Zeit, sie werden auch beschrieben, wie eine Hunderasse, der Hautton, die Nase, die zu kurze Oberlippe, die rauhe Stimme der Frauen, "eine gewisse fast raumerhellende Blondheit", aber auch "eine Art sich zu halten, zu schreiten, die Hand zu geben". Oder, wie sie dastehen: "...wobei das eine Bein eine gewisse Haltungsänderung auferlegte, die durch Heraufziehen einer Schulter ausgewogen wurde, während das Monokel im gleichen Moment ins Auge glitt und eine Braue hob."

Wie bei Dallas und Denver Clan gibt es eine Gegenfamilie, die ebenso zum höchsten Adel Frankreichs gehört, aber eben in allem einen Gegenpol bildet, die Courvoisier. Oriane de Guermantes hegt fast sozialistische Ansichten und legt auf Geist mehr Wert als auf Abstammung, aber für die Courvoisier gilt: "Geist und Intelligenz waren in ihren Augen gewissermaßen Dietriche, mit deren Hilfe Leute, über deren Ursprung man schlechterdings gar nichts wußte, sich in die geachtetsten Salons einschlichen..." Man ist also nur sicher vor Betrügern, wenn man dumme und langweilige Gäste um sich hat. Wobei man sich natürlich auch dumm und langweilig stellen könnte, aber dann würde man eben auch wieder nicht eingeladen werden.

Die Courvoisier haben die Hoffnung, Oriane könnte sich ins Unglück stürzen und "einen Künstler, einen Vorbestraften, einen Habenichts, einen Freidenker" heiraten, und so "aus der achtzehnten Oriane de Guermantes ohne eine einzige Mesalliance" zu einer "Entgleisten" werden. Aber das ist nicht passiert, denn sobald es an die Hochzeit geht, wirkt eine Art "Hausgeist" der Familie, der auch über die sonstigen familiär ererbten Gepflogenheiten wacht, und man sucht nach der reichsten und angesehensten Partie.

Nur ihren Salon stellt Oriane nach anderen Maßstäben zusammen, "...denn sie war der Meinung, es sei mit einem Salon im sozialen Sinne des Wortes genauso wie im materiellen, wo es, um ihn häßlich zu machen, schon genügt, daß man Möbel, die man nicht hübsch findet, zum Ausfüllen oder als Beweis des Reichtums darin stehenläßt [..] Wie bei einem Buch oder einem Haus bildet die Grundlage für die Qualität eines 'Salons' – so dachte jedenfalls mit Recht die Herzogin von Guermantes – der Verzicht." Allerdings entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, wenn ausgerechnet Proust verkündet, daß Verzicht die Qualität eines Buchs ausmacht, denn seit ungefähr vierhundert Seiten hat er bestimmt auf kein Detail mehr verzichtet, das er gerne einbauen wollte. Bei Verzicht muß ich an meine Geburtstage denken, die ich nicht mehr feiere. Nach welchen Kriterien sollte man die Gäste zusammenstellen? In der Schule habe ich immer so viele eingeladen, daß ich am Ende auch noch den Rest einladen mußte, weil es zu demütigend gewesen wäre, ein paar wenige auszusperren. Heute wäre ich froh, wenn ein paar wenige kämen.

Noch einmal zur Familienähnlichkeit der Guermantes, die der Fremde schon in dem Moment an sich erfährt, wenn er einem von ihnen vorgestellt wird: "In dem Augenblick, da ein Guermantes [..] den Vorstellenden einen Namen nennen hörte, ließ er auf den Träger, als sei er noch keineswegs entschlossen, diesem guten Tag zu sagen, einen im allgemeinen blauen Blick von der Kälte des Stahles fallen, den er bereit schien, in die tiefsten Tiefen von dessen Herzen zu senken [..] wenn daher der besagte Guermantes nach rascher Erforschung selbst der verschwiegensten Winkel des Seelenlebens und der Ehrenhaftigkeit des Kontrahenten diesen für würdig erachtete, ihn künftig wiederzutreffen, und ihm seine Hand am äußersten Ende des langausgestreckten Arms in einer Weise entgegenhielt, durch die es aussah, als überreiche er ein Florett für den Einzelkampf, war diese Hand so weit von dem Guermantes selbst entfernt, daß, sofern er den Kopf neigte, schwer zu unterscheiden war, ob er den Vorgestellten grüßte, oder die eigene Hand." Die Damen dagegen machen eine fünfundvierzig Grad tiefe Verbeugung, schnellen aber sofort wieder in die Vertikale zurück: "Durch diese zweite Bewegung wurde, was durch die erste scheinbar konzediert worden war, wieder aufgehoben. Man blieb nicht einmal wie beim Zweikampf Herr über das gewonnene Terrain, sondern die Ausgangspositionen wurden wiederhergestellt."

Unklares Inventar: - Ein sommerliches Volksfest in Robinson.

  • Eine Partie Brelan.
  • Der Geist der Mortemart.
  • Prinzessin Budrulbudur.

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