Schmidt liest Proust
Samstag, 7. Oktober 2006

Berlin - III Die Welt der Guermantes - Seite 500-521

Der Kinobesuch beginnt mit der Übung, dem Strom der aus der vorigen Vorstellung Kommenden, standzuhalten, obwohl man in Schweiß ausbricht, weil man so viele Menschen als Ansteckungsherd empfindet, oder auch nur Frisuren verachtet, oder den reserviert-kennerhaften Blick, mit dem dieser eine Mensch die Ankündigungen der nächsten Filme an der Wand mustert.

Der Trailer für einen seit 50 Jahren bestehenden Kinoverband, der in 50 Sekunden 50 berühmte Film-Schauspielerinnen zusammenschneidet, von jeder ein mit Worten kaum zu beschreibender Moment. Hat der Regisseur ihnen erklärt, wie sie aussehen sollten, weil er es einmal in der Wirklichkeit beobachtet hatte? Unmöglich, der Blick ließe sich gar nicht von der Schauspielerin trennen. Was heißt es dann aber, Regie zu führen, wenn solche entscheidenden Momente, die aus einem Film ein Stück Menschheitsgeschichte machen, in keinem Drehbuch stehen können und tausend glückliche Zufälle zusammenkommen müssen, damit sie zustande kommen? Die Intensität von Kinobildern, immer eine Provokation für die Wirklichkeit, die daneben wirkt wie eine zwar durchaus ähnliche, aber ungleich weniger attraktive Schwester.

Dann ein Trailer für "Europa Cinemas", bei der nichts als eine Reihe Städtenamen eingeblendet werden "Sofia", "Kiev"... Jeder Name versetzt einem einen kleinen Stich, die Welt ist so groß, es reicht nicht mehr, wie für Goethe, nach Rom zu gehen, um alles wesentliche gesehen zu haben. In den Namen der Orte, die wir schon kennen, hat sich unsere Vorstellung abgelagert, zitiert man sie, kommt alles wieder hoch. Umgekehrt ist es ja bisher bei Proust gewesen, für den sich allein aus dem Namen immer eine reich ausgemalte Vorstellung ergibt.

Der Film ist eine beglückende Explosion von Ideen, jemand hat einfach nicht aufgehört zu spielen, als er ins Erwachsenenalter gekommen ist. Wieviel Arbeit es gemacht haben muß, das alles so anzuordnen, daß jeder Einfall seinen Platz hat und man nicht genug Zeit hat, sich alle zu merken. Die Arbeitsleistung, die sich im Zuschauer als Freude entlädt. Wäre mehr Liebe in der Welt, hätte ich auch mehr vom Film mitbekommen, weil das Pärchen vor mir, statt mir die Sicht zu verstellen, die Köpfe enger zusammengesteckt hätte.

  • In Paris wohnen, aber in einem Haus, das an einer abschüssigen Straße steht. Der Mülleimer vor der Tür, das schmale holzgetäfelte Treppenhaus, die verschnörkelten Balkongitter.
  • Warum man die handgemachten Effekte, denen man den Bastelcharakter ansieht, sofort als "poetisch" empfindet.
  • Warum einen der für jeden gleich intensive Moment, sein unverändertes Kinderzimmer wieder zu betreten (Salinger, "Don't come knocking", "Cinema paradiso", etc.), im Film nicht mehr berührt, weil man ihn schon so oft gesehen hat. Wäre es das erste mal, wäre man vielleicht noch begeistert. Das sagt doch eher etwas über einen selbst, als über das Werk.
  • Frauen mögen nicht, wenn Männer weinen (wirklich?)
  • Warum erwachsen zu werden immer noch zur Pflicht erklärt wird, wie in bestimmten Arbeitsumgebungen, wo diejenigen, die das schlimmste schon hinter sich haben, von den neuen erwarten, daß sie es genauso schlimm erleben.
  • Der Moment, wenn man sie zum ersten Mal mit Brille sah.
  • "Coutance", das Lied von Dick Annegarn, von dem man bisher noch nie gehört hatte.

Seite 500-521 Nun endlich die Höhle des Löwen, der Salon der Madame de Guermantes. Als eine Art Fährmann fungiert Monsieur de Guermantes, der Marcel schon an der Schwelle empfängt, ihm aus dem Mantel hilft und ihn durch die (wie Höllenhunde) im Vorzimmer stehenden Diener geleitet. Über das herzogliche Paar kursieren Scheidungsgerüchte: "Der Herzog war ein so schlechter Ehemann, so brutal sogar, wie es hieß, daß man ihm dankbar war, wie Bösewichtern für eine Anwandlung von Sanftmut, als er die Worte 'Madame de Guermantes' aussprach, durch die es so aussah, als breite er schützend die Hände über die Herzogin, damit sie gewissermaßen nur eine Person mit ihm bilde." Seine Höflichkeit, auch wenn sie nur gespielt ist, hat etwas überpersönliches, weil sie als "Ausstrahlung des Hoflebens" auf frühere Jahrhunderte (vor allem das siebzehnte) verweist. "Die Menschen vergangener Zeiten scheinen uns unendlich fern. Wir wagen nicht, bei ihnen tiefe Absichten vorauszusetzen über die hinaus, die sie ausdrücklich äußern; wir sind erstaunt, einer Regung, die ungefähr den unsern gleicht, bei einem Helden von Homer oder in einer geschickten taktischen Finte Hannibals wiederzubegegnen, zum Beispiel, wenn er in der Schlacht bei Cannae seine linke Flanke eindrücken ließ, um den Gegner durch Einschließung zu überrumpeln. Es ist beinahe so, als stellen wir uns beide, den Epiker und den Feldherrn, so entfernt von uns vor wie ein Tier, das wir in einem zoologischen Garten antreffen." Man ist bei alten Werken dann übertrieben dankbar, wenn sie etwas halbwegs mit unserem Leben zu tun habendes enthalten: "Wir sind so erstaunt, bei Barden der Vorzeit moderne Ideen zu finden, daß wir in Bewunderung ausbrechen, wenn wir in dem, was wir für eine alte gälische Dichtung halten, einer Idee begegnen, die wir bei einem Zeitgenossen höchstens ganz geistreich gefunden hätten."

Zunächst darf Marcel ganz allein die Sammlung der Elstirs betrachten, über die die Guermantes verfügen. Er meditiert noch einmal über die besondere Kunst dieses Meisters. Bilder, die einem zeigen, wie Elstir die Wirklichkeit sieht, wodurch man sie selbst in Zukunft auch anders sieht. Fragmente, "...die nur die Projektion gemäß der ganz besonderen Sehweise des großen Malers waren, welche seine Worte keineswegs vermittelten." Wir sehen ja schon mit der Vernunft, und manchmal kommt es zu optischen Täuschungen, weil die Vernunft etwas falsch zusammenbaut. (Die Methode der Surrealisten.) Elstirs Bemühen "...hatte oft darin bestanden, das Aggregat aus Vernunfteinsichten aufzulösen, aus dem sich bei uns ein optischer Eindruck zusammensetzt." Als Gegenstand für solche Experimente kann dann alles dienen: "...es gibt keine mehr oder weniger kostbaren Dinge, das ordinäre Kleid und das in sich selbst hübsche Segel sind beide Spiegel des gleichen Lichterspiels; was daraus wird, hängt einzig vom Blick des Malers ab." Diese Ansicht läßt sich natürlich auch direkt auf die Literatur übertragen, wo es keine großen oder kleinen Themen gibt, und nur der Blick des Autors entscheidet.

Der Gegensatz könnte eigentlich nicht größer sein, von der tiefsten Beziehung zur Welt, die sich in Elstirs Kunst zeigt, geht es in die oberflächlichste Sphäre, ins Auslaufgehege des Adels. Über seiner Kunstbetrachtung hat Marcel sogar die Zeit vergessen, und als er den Salon betritt, hat man dort tatsächlich seit einer Dreiviertelstunde mit dem Beginn des Essens auf ihn gewartet. Trotzdem läßt sich niemand etwas anmerken. Nachdem er bei seinen bisherigen Salonerlebnissen "...entweder gönnerhaftes oder reserviertes Verhalten von seiten mürrischer Damen der bürgerlichen Gesellschaft gewohnt war", findet er sich jetzt, wie Parsifal, umgeben von aufgeschlossenen, tief dekolletierten "Blumenmädchen", deren zärtliche Blicke ihm von überallher zufliegen.

Diesen Damen waren "seit dem zartesten Alter die von stolzer Demut diktierten Lehren eines christlich betonten Snobismus eingeimpft..." Freundlichkeit gegen Tieferstehende ist da nur ein Mittel, den Abstand zu betonen: "Laß denen, welche tiefer als dich zu stellen die himmlische Güte dir die Gnade erwiesen hat, zukommen, was du ihnen zuteil lassen kannst, ohne deinem Rang etwas zu vergeben, das heißt geldliche Beihilfe und selbst Krankenpflege, aber natürlich nie eine Einladung zu einer deiner Abendgesellschaften, was ihnen gar nicht guttäte, wohl aber durch Verminderung deines Prestiges deinen Wohltaten etwas von ihrer Wirkung benähme."

Es kommt zu den eigenartigsten gesellschaftlichen Verrenkungen. Graf Hannibal de Bréauté-Consalvi kennt Marcel nicht, und geht deshalb davon aus, daß dieser außerordentliche Verdienste haben muß, sonst hätte ihn die Madame de Guermantes nicht eingeladen, so wie er sich selbst "ebensosehr und in ganz der gleichen Weise wie die Herzogin von Guermantes, nur in männlicher Gestalt, als Schmuck und Weihe jedes Salons empfand..." Als Neuling scheint Marcel sehr aufzufallen, der Graf tritt mit ihm in Kontakt: "Er sah freilich noch nicht klar, ob ich nun eigentlich derjenige sei, dessen Serum gegen Krebs zur Zeit erprobt wurde, oder der Mann, der den nächsten Einakter im Théâtre-Français einstudierte, aber als großer Geist und Liebhaber von 'Reiseerzählungen' machte er mir für alle Fälle zahllose kleine Verbeugungen und sandte mir Zeichen von Verständnis und durch sein Monokel filtrierte Formen des Lächelns zu, ob nun in der falschen Vorstellung befangen, ein Mann von besonderen Verdiensten werde ihn besser würdigen, wenn er ihm die Meinung glaubhaft nahelegte, er, Graf Bréauté-Consalvi, schätze die Privilegien des Geistes nicht minder hoch als die der Geburt, oder aber einfach aus dem Bedürfnis und einer gleichzeitigen Schwierigkeit heraus, seine Befriedigung auszudrücken, da er ja nicht wußte, in welcher Sprache er zu mir reden solle, alles in allem jedenfalls so, als befinde er sich in der Gegenwart eines der 'Eingeborenen' eines unbekannten Landes, an dessen Küste sein Floß angelegt hätte und mit dessen Einwohnern er in profitlicher Absicht unter aufmerksamer Beobachtung ihrer Sitten und Gebräuche, ohne deswegen seine unaufhörlichen Freundschaftsbekundungen zu unterbrechen noch zu versäumen, wie jene Stämme laute Schreie auszustoßen, Straußeneier und Gewürze gegen Glasperlen einzutauschen versuchte." Eine sehr komische Beschreibung, der Slapstickcharakter der Ethnologie (wenn sich der Ethnologe den vermeintlichen Gepflogenheiten der Eingeborenen anzupassen versucht, deren Sprache er nicht spricht), die Komik nicht aufeinander eingestellter Kommunikationssysteme. Die Verbeugungen und das Lächeln, die so linkisch wirken, weil sich der Höfliche auf das vermutete Niveau des unbekannten Eingeborenen herabläßt, weil sie hier aber aus der Perspektive des "Eingeborenen" beschrieben werden.

Der Vorstellungsreigen geht weiter, Marcel drückt Hände "...und sehr zum Schaden meiner Fingergelenke, die leicht zerquetscht aus dieser Berührung hervorgingen, überließ ich meine Hand dem Schraubstock eines deutschen Händedrucks, der von einem ironischen oder gutmütigen Lächeln des Fürsten von Faffenheim begleitet war." So nimmt sich also ein deutscher Fürst in einem französischen Salon aus, so ähnlich, wie der Preuße in der Ferrero-Rocher-Werbung: "Aber mir könnse doch ne Kiste vakoofen!" Die Vorliebe dieses Milieus für Beinamen hat ihn übrigens so endgültig zum "Fürst Von" gemacht "...daß er selbst sich als 'Fürst Von' oder im intimen Kreise sogar nur als 'Von' unterschrieb."

Auch in solch einem gehobenen Salon warten Ernüchterungen auf Marcel, wenn "der ordinäre Hampelmann, dem ich vorgestellt wurde", so gar nicht zu seinem die Phantasie anregenden Namen passen will. Der Fürst von Agrigent hatte "so wenig Beziehung zu seinem Namen wie zu einem Kunstwerk, das er besessen hätte, ohne den geringsten Widerschein davon auf seiner Person zu tragen, ja ohne es vielleicht auch jemals nur anzusehen." So etwas passiert einem aber auch bei Bürgerlichen, z.B. Schriftstellern, die überhaupt keine Beziehung zu den von ihnen geschriebenen Büchern zu haben scheinen, wenn man sie darauf ansprechen will.

Katalog kommunikativer Knackpunkte: - Jemanden nicht zuordnen können, der offenbar davon ausgeht, daß man ihn kennt: "Ich war ebenso ungeduldig, ihren Namen zu wissen, wie sie ihrerseits, zu sehen, daß ich sie verständnisvoll grüßte, damit sie ihr Lächeln, das sie wie einen hohen Ton in infinitum aushalten mußte, endlich ablegen dürfte."

  • Sich einer so demütigen Liebenswürdigkeit befleißigen, daß jeder auf der Stelle errät, "in welchem ungeheuren Hochmut diese mutmaßlich wurzelte."

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