Schmidt liest Proust |
Montag, 2. Oktober 2006
Berlin - III Die Welt der Guermantes - Seite 397-416 jochenheißtschonwer, 02.10.06, 19:17
Drei mögliche Romananfänge: "Schön ist es, wenn man sich auf dem Bahnhof zum Warten neben den Fahrplan stellt, weil immer wieder Menschen mit hilfesuchendem Blick auf einen zustreben, man ihnen dann aber gar nicht helfen muß." "Wie oft bestelle ich im Restaurant dasselbe, wie meine Freunde, nur um sicherzugehen, daß sie nichts besseres bekommen, als ich." "Nach Jahren war ich wieder an der Universität, um nachzusehen, ob sie inzwischen schon nach mir benannt worden war. Auf dem Klo stellte ich fest, daß mich dort inzwischen nicht mehr nur die Frauen, sondern auch schon die Sensoren der Wasserhähne ignorieren." Seite 397-416 Das Sterben der Großmutter rückt auch wieder Françoises bemerkenswerten Charakter ins Bild. Als Bauernkind mit der elementaren Natur vertraut, aber eben auch etwas verroht, benimmt sie sich bei aller Liebe zur Großmutter durch ihren "klarblickenden Pessimismus" etwas grob. Einen schon vor der Krankheit bestellten Elektromonteur begleitet sie z.B. zur Tür, statt am Bett der Großmutter zu bleiben. Das gehört für sie zum korrekten Protokoll. In denselben Begriffen beurteilt sie auch die französische Außenpolitik. Als der Russisch-Japanische Krieg ausbrach, war es ihr "...dem Zaren gegenüber peinlich, daß wir nicht auch in den Krieg zogen, um 'den armen Russen zu helfen'." (Ich könnte mir vorstellen, daß es in der großen Politik nicht anders funktioniert) "...der gleiche Kodex bewirkte, daß sie so kurz vor dem Tode meiner Großmutter geglaubt hätte, den gleichen Formfehler zu begehen, wenn sie sich diesem redlichen Arbeiter gegenüber nicht persönlich entschuldigte, wo er sich unseretwegen solchen Unbequemlichkeiten unterzogen hatte." Abwechselnd versagen der Großmutter Augen, Ohren und Zunge. Françoise frisiert sie noch einmal, "als gebe sie meiner Großmutter damit die Gesundheit zurück..." Aber diese kann den Kopf dabei kaum gerade halten und gibt ein erbärmliches Bild ab. Dann will Françoise ihr auch noch einen Spiegel hinhalten, was Marcel entsetzt zu verhindern weiß. Auf Doktor Cottards Geheiß wird die Großmutter, um ihr Gehirn zu entlasten, mit Blutegeln behandelt: "Als ich ein paar Stunden später zu meiner Großmutter kam, wanden sich medusenhaft an ihrem Nacken, ihren Schläfen und Ohren kleine schwarze Schlangen in ihrem blutigen Haar." Nur kurz tritt Besserung ein, und Françoise bestellt sich schon ein Trauerkleid bei der Schneiderin: "Im Leben der meisten Frauen wird alles, selbst der größte Schmerz, schließlich zur Kleiderfrage." Nun wacht man nachts am Sterbebett, die Großmutter schon in Agonie, man hat "...eine jener 'Extrahilfen', die man in solchen Ausnahmezeiten kommen läßt, um die Dienstboten zu entlasten, wodurch Sterbefälle einen gewissen Festcharakter erhalten..." Die ganze Angelegenheit ist nicht nur eine Unannehmlichkeit, man bekommt ein Bild davon, wie der Tod in der bürgerlichen Gesellschaft durch Rituale eingerahmt und gezähmt wurde. Der Gedanke, das auszulagern, scheint hier niemandem zu kommen. Mehrere Nächte sitzen Vater, Großvater und ein Vetter am Bett der Großmutter, während sie aus dem Sauerstoffbehälter atmet: "Ihre fortgesetzte Aufopferung legte schließlich eine Maske der Gleichgültigkeit an, und die unaufhörliche Untätigkeit neben dem Sterbebett veranlaßte sie dazu, die gewissen Gespräche zu führen, die von langen Eisenbahnfahrten nicht fortzudenken sind." Vielleicht eine Anspielung auf die Sterbeszene in Madame Bovary. Doktor Dieulafoy wird gerufen (Arzt Nr.5), durch sein korrektes Auftreten anscheinend ein Spezialist für Sterbefälle. "Die alte Herzogin von Mortemart, geborene Guermantes [..] empfahl beinahe automatisch in ernsten Fällen mit einem Augenzwinkern 'unter allen Umständen Dieulafoy', als handle es sich um eine Eisbestellung..." Der Doktor erscheint, und: "Mein Vater ging in den benachbarten Salon und begrüßte ihn wie etwa einen Schauspieler, der im Hause auftreten soll." Der elegante, würdevolle Mann tritt ans Bett der Großmutter, schaut sie sich an "...und trat in denkbar bester Form wieder ab, indem er schlicht das Kuvert mit dem Honorar einsteckte, das man ihm übergab. Es sah dabei so aus, als habe er es überhaupt nicht bemerkt, und wir selbst fragten uns einen Augenblick, ob wir es ihm denn wohl gegeben hätten, mit einer so taschenspielerhaften Geschicklichkeit ließ er es verschwinden, ohne auch nur das geringste von seinem höchstens noch gesteigerten Ernst des großen medizinischen Beraters im langen Gehrock mit Seidenaufschlägen und mit dem schönen Kopf in einer edeln Haltung des Mitgefühls einzubüßen." Die Kunst, sein Honorar dezent in Empfang zu nehmen, muß natürlich in unserem Gesundheitssystem verkümmern. Während die Atmung der Großmutter aussetzt, "durchlebte meine Mutter den gedankenlosen Jammer eines Blattes, das der Regen peitscht und das vom Wind hin- und hergezerrt wird." Bis es vorbei ist, Die Großmutter bäumt sich ein letztes mal auf und stirbt. Später hat sie wieder ein junges Gesicht, aus dem die Leiden und Kümmernisse eines langen Lebens wie weggeblasen sind: "Das Leben ging und nahm die Enttäuschungen des Daseins gleichfalls mit sich fort." Selbständig überlebensfähige Sentenz: - "Ein Priester hat wie ein Irrenarzt immer etwas von einem Untersuchungsrichter."
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