Schmidt liest Proust |
Mittwoch, 27. September 2006
Berlin - III Die Welt der Guermantes - Seite 293-314 jochenheißtschonwer, 27.09.06, 23:26
Ich bin eigentlich immer krank, nur manchmal sind die Diagnosegeräte nicht genau genug. Seit vorgestern habe ich Schmerzen im Nacken und kann den Kopf nicht mehr nach links drehen. Ich weiß nicht, ob das einen Einfluß auf mein Werk haben wird, aber die auffälligste Konsequenz wird wohl sein, daß ich mich, solange ich unter diesem Zustand leide, nur noch in Frauen verlieben kann, die rechts von mir sitzen. Da ich von links besser aussehe, wären das immerhin die Frauen, denen es wirklich um mich geht und nicht nur um mein Aussehen. Trotzdem würde es nichts mit uns werden, weil ich es immer gewohnt war, rechts neben der Frau zu gehen, links fühle ich mich ganz verloren. Ich müßte also in Zukunft, wenn ich unbedingt mit einer Frau spazieren will, um mich dabei nicht völlig zu verleugnen, rückwärts gehen. Dann hätte der eine immer den Weg im Blick, der noch vor uns liegt, und der andere den, den wir schon gegangen sind. Das wäre vielleicht nicht schlecht, denn so könnten wir immer zusammen sein, und trotzdem würde jeder sein eigenes Leben leben. Seite 293-314 Wegen Dreyfus gerät Bloch, der ja selbst Jude ist, in Bedrängnis. Denn offenbar sind alle anderen Salongäste dreyfusfeindlich und zudem traditionell antisemitisch eingestellt. Aus Angst vor ihren Gästen möchte die Gastgeberin Bloch bei der Verabschiedung bedeuten, daß er nicht wiederzukommen brauche, gerät aber in Bedrängnis, als dieser ihr die Hand reicht, denn sie möchte ihn auch wieder nicht verstoßen, wegen seiner Bohème-Kontakte, die ihr für ihren Salon noch nützlich sein könnten. Ein Dilemma, aus dem sie sich rettet, indem sie sich in ihrem Sessel schlafend stellt, als er ihr seine Hand unter die Nase hält. Für ihn wirkt diese Reaktion, als sei sie aus Altersgründen nicht mehr ganz beisammen. Auch auf sein Adieu antwortet sie nicht: "Die Marquise machte mit den Lippen die ganz leichte Bewegung einer Sterbenden, die den Mund öffnen möchte, deren Blick jedoch nichts mehr erkennt." Fingierter Sekundenschlaf, eine gute Strategie in verzwickten gesellschaftlichen Situationen. Irgendwann fällt einem auf, daß alle reden, aber Marcel selbst die ganze Zeit über kein Wort sagt. Das heißt, eigentlich fällt es einem eben nicht auf, erst, wenn man darauf achtet. Zum Beispiel trifft jetzt Saint-Loup ein und spricht zu seiner Tante, der Madame de Guermantes. Anscheinend weist er sie, wie gewünscht, auf Marcel hin, weswegen sich die Madame diesem zum ersten mal zuwendet. Aber noch bevor er ihre Frage, wie es ihm gehe, beantworten kann, heißt es: "Da er [Saint-Loup] befürchtete, die Unterhaltung werde auf der Stelle stocken, trat er selbst hinzu, um sie weiterzuspinnen, und antwortete für mich: Es geht ihm nicht besonders, er ist etwas abgespannt; im übrigen ginge es ihm besser, wenn er dich öfter sähe, denn ich möchte dir nicht verhehlen, daß er dich sehr gern sieht." Dann läßt er sie allein und: "Wir schwiegen alle beide." Schließlich bricht die Madame das Schweigen: "Ich sehe Sie manchmal am Vormittag…" Aber noch bevor Marcel darauf antworten kann, stößt eine andere Madame dazu und stellt der Madame de Guermantes eine Frage. Es war denkbar knapp, aber er hat es wieder geschafft, nichts zu sagen. Zu schweigen wäre, nach dem Projekt, auf Partys mit Ohrstöpseln zu gehen, ein gutes Folgeexperiment. Ich wette, es würde niemandem auffallen, wenn ich auf den Partys, zu denen ich noch eingeladen werde, kein Wort sagen würde, im Gegenteil, hinterher würde es heißen, ich sei diesmal richtig sympathisch gewesen. Der Name des eintretenden deutschen Premierministers Fürst von Faffenheim-Münsterburg-Weiningen erinnert Marcel an einen deutschen Badeort, in dem er einmal mit der Großmutter gewesen ist, und der "am Fuße eines Gebirges gelegen war, welches durch Spaziergänge Goethes seine Weihe erhalten hatte..." Das war die bemerkenswerte Gabe Goethes, die Welt mit einer Schleifspur von Sinn zu überziehen. Alles, was er einmal berührt hat, ist für immer Teil von Goethes Kosmos und dadurch auch irgendwie erlöst worden. Nur für ihn selbst ist es natürlich anstrengend, immer im Dienst zu sein. Während alle anderen das Gefühl genießen, durch ein Gebirge zu wandeln, das von Goethes Spaziergängen geweiht wurde, muß Goethe sich ständig einsam und als erster durch völlig ungeweihtes Gelände vorarbeiten. Er ist überall der erste, und wenn nicht der erste, so doch der erste von Bedeutung, eben der erste Goethe. Es muß ihm ja direkt Angst gemacht haben, irgendetwas in die Hand zu nehmen, und es dadurch unwiederbringlich mit der Aura eines Heiligtums aufzuladen, auch wenn es nur ein Irrtum war, weil er nach etwas ganz anderem gesucht hatte. Unklares Inventar: - kaudinisches Joch.
Katalog kommunikativer Knackpunkte: - Über einen Anwesenden lästern, indem man jemandem in Gegenwart des Betreffenden etwas ins Ohr flüstert: "Madame de Guermantes sagte Monsieur d'Argencourt etwas ins Ohr, was ich nicht verstand, ganz offenbar aber handelte es sich um Blochs Religionszugehörigkeit, denn in diesem Augenblick glitt über das Gesicht der Herzogin der ganz bestimmte Ausdruck, dem die Furcht, von der als Zielscheibe dienenden Person gehört zu werden, etwas Zögerndes und Unaufrichtiges verleiht, während sich jene merkwürdige und etwas boshafte Freude darunter mischt, die eine Menschenkategorie uns einflößt, der wir uns von Grund auf fremd fühlen."
Verlorene Praxis: - Ein leichtes trockenes Glucksen in der Kehle vollführen, zum Beweis dafür, daß man den Geist eines Verwandten goutiert. Selbständig überlebensfähige Sentenz: - "Eine große Dame sein heißt auch die Rolle einer solchen spielen, nämlich in gewisser Weise vollkommen schlicht aufzutreten. Es ist dies ein Spiel, das sehr teuer wird, um so mehr als Schlichtheit nur unter der Bedingung bewundert wird, daß die anderen wissen, man könne auch anders als schlicht sein, da man ja bekanntlich über sehr großen Reichtum verfügt." ... Link |
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