Schmidt liest Proust
Sonntag, 24. September 2006

Berlin - III Die Welt der Guermantes - Seite 231-252

Früher haben wir jeden Tag Tischtennis gespielt, an den Steinplatten vor dem Haus, im Sommer bis man in der Dämmerung den Ball nicht mehr sah, oder ein Film im Fernsehen kam ("Kommt heute ein Film?" die Frage würde man heute wohl so nicht mehr stellen.) Dabei ist mir nie aufgefallen, daß man sich bei diesem Sport dauernd nach dem Ball bücken muß. Heute hält mich schon das davon ab, wieder Feuer zu fangen, ich habe jetzt wieder einmal gespielt, aber dieses ständige Bücken war sehr anstrengend. Es gibt ja auch Sportarten, in denen man sich nicht so oft bücken muß, z.B. Golf, da bückt man sich auf einem 18er Kurs genau 19 mal, also weniger oft als beim Tischtennis bei einem einzigen Satz. Oder Schwimmen, da bückt man sich nur einmal kurz am Start, aber selbst das ist fakultativ, man könnte auch mit einer Kerze ins Becken springen und den anderen hinterher schwimmen. Beim Gewichtheben muß man sich auch nur einmal bücken, bis dahin ist es immer noch weniger anstrengend als eine Partie Tischtennis. Danach muß man sich zwar die Hantel über den Kopf wuchten, aber das ist ja ein anderes Thema. Der Unterschied zu früher, wo mir das Bücken nicht so unangenehm auffiel, ist, daß ich keinen Ehrgeiz mehr habe. Wenn ich denke, zu welchen Aggressionen man fähig war, weil der Bruder einen besiegt hatte. Das ist vorbei, ich lasse anderen gerne den Vortritt. Aber was ist, wenn einen der Ehrgeiz auch in anderen Bereichen verläßt? Wenn es mir nichts mehr ausmacht, daß andere Autoren mehr Erfolg haben, als ich? Heißt das dann, daß ich bald sterben werde? Von einer höheren Warte aus betrachtet, ist Neid ja immer Unsinn, man durchschaut doch die Aufmerksamkeitsökonomie und kann sich nur gratulieren, nicht selbst in der peinlichen Rolle des Hätschelkinds der Institutionen zu sein. Aber Neid ist eben auch etwas, was einen dazu antreibt, sich immer wieder nach dem Ball zu bücken und weiterzuspielen. Und wie unbedeutend die Gegner waren, die man auf seinem Weg besiegt hat, ist doch genauso unwichtig, wie, woraus genau der Treibstoff besteht, mit dem man zum Mond fliegt, Hauptsache man kommt an.

Seite 231-252 Der Wettstreit der Salons um die nobelsten oder berühmtesten Besucher ist ein harter Daseinskampf, obwohl es noch nicht um ökonomischen Nutzen zu gehen scheint, und man keine Werbebanner verkauft. Aber die Zeitungen berichten, wer wo gesehen wurde. Wobei man den gegenwärtigen Ruf eines Salons von seiner historischen Bewertung unterscheiden muß, die günstiger ausfällt, wenn die Salondame eines Tages ihre Memoiren verfaßt. Indem sie das tut, übertrumpft Madame de Villeparisis den Salon von Madame Leroi, in den sie selbst nicht eingeladen wird. Aber sonst würde sie ja auch gar nicht schreiben: "Gott will, daß ein paar gut geschriebene Bücher erscheinen, und zu diesem Zweck füllt er das Herz solcher Frauen wie Madame Leroi mit solcher Art von Verachtung an, denn er weiß, daß, lüden sie eine Madame de Villeparisis zu sich ein, diese sofort ihr Schreibzeug im Stich und für acht Uhr anspannen ließe."

Marcel wünscht sich ein "mythologisches Wörterbuch der Gesellschaft", aus dem man erfahren könnte, welche galanten Abenteuer in ihrer Vergangenheit zur Entthronung bestimmter gesellschaftlicher Gottheiten geführt haben. Man erhalte solche Informationen nur noch von sehr alten Männern, die die Zeit erlebt haben, oder von jungen Frauen, die sie von diesen alten Männern hätten. Eine interessante Form der Wissenstradierung.

Marcel hat Glück, denn die Herzogin von Guermantes beehrt den Salon ihrer Tante, der Madame de Villeparisis. Müßte sie sie nicht aus Verwandtschaftsgründen besuchen, wäre ihr deren Salon allerdings zu drittklassig: "...nachdem sie einen leichten Seufzer ausgestoßen hatte, begnügte sie sich, um die Nichtigkeit des Eindrucks kundzutun, den der Anblick des Historikers und der meinige auf sie gemacht hatte, mit einer kleinen Bewegung ihrer Nasenflügel, die sie mit jener spannungslosen Exaktheit ausführte, wie sie sich aus einer gänzlich unbeteiligten Aufmerksamkeit ergibt." Mit solchen Bewegungen der Nasenflügel treibt man bestimmte, ehrgeizige Männer wohl in den Wahnsinn. Marcel himmelt sie immer noch an, er erwartet, daß ihre Stimme klingt, als schwämme in ihr "...das träge ölige Gold besonnter Provinzregionen." Solche Bilder tragen allerdings für den Leser nicht zur Klarheit bei, man weiß einfach nicht, was das tertium comparationis zwischen einer Frauenstimme und "trägem öligem Gold besonnter Provinzregionen" ist. Aber ihn hat auch schon der "amarantfarbene Widerschein der letzten Silbe ihres Namens" zum träumen eingeladen, und er hofft, ihre Plauderei würde "durch mysteriöse Tiefe die verjährte Eigenart eines mittelalterlichen Wandteppichs oder eines gotischen Kirchenfensters besitzen."

Was würde sie denken, wenn sie wüßte, was er denkt? Bis jetzt ist sie nur gelangweilt, sie blickt in die Runde, und erholt sich erst für einen Moment, als ihr Blick auf die ihr bekannten Möbel fällt, "...dann kehrte dieser Blick von dem Beauvaisbezug noch einmal zu der Person zurück, die darauf saß, und wurde dann wieder zum wachen Mittler einer Mißbilligung, die in Worten zu äußern Madame de Guermantes aus Respekt vor ihrer Tante sich nicht erlaubt haben würde, die sie aber auch empfunden hätte, wäre statt unserer auf diesen Sesseln ein Fettfleck oder eine Staubschicht zu konstatieren gewesen." Was für eine arrogante Schnepfe, aber für Marcel sicher die nächste Stufe in der streng hierarchisch aufsteigenden Biographie seines Begehrens. Man darf gespannt sein, wen dieses sich als letztes und höchstes zum Objekt wählen wird, vielleicht ein Auto.

Zu ihren eigenen Essen lädt Madame de Guermantes übrigens nur Männer ein, die sie interessant findet und verbittet sich, daß sie ihre Gattinnen mitbringen, "...da ihre immer mehr oder weniger vulgären Frauen in einem Salon, in dem nur die elegantesten Schönheiten von Paris auftraten, störend gewirkt hätten..." Ihr Mann, der Herzog, erklärt das den verwunderten Ehemännern damit, daß seine Frau "...die Gesellschaft von Frauen nicht ertrage, fast als handle es sich um eine ärztliche Vorschrift oder als erkläre er, sie könne nicht in einem Zimmer sein, in dem es nach etwas Bestimmtem rieche, nichts stark Gesalzenes essen, in der Bahn nicht rückwärts zur Fahrtrichtung sitzen oder unmöglich ein Korsett an sich haben." Solange sie die entstehende Lücke mit eleganten Pariser Schönheiten auffüllt, ist das ja keine schlechte Einladungspolitik, leider vergessen heute viele weibliche Geburtstagskinder diesen Teil und man findet sich immer wieder auf Feiern zwischen lauter interessanten Männern, was dann gar nicht so interessant ist, weshalb man verzweifelt Ausschau nach ihren mehr oder weniger vulgären Frauen hält, die anscheinend ausgesperrt wurden.

Sie ist durchaus geistvoll und neigt "...zu einer Art der Konversation, die alle großen Worte und Bekundungen erhabener Gefühle ablehnt, und entfaltete gerade eine besondere Eleganz darin, in Anwesenheit eines Dichters oder Musikers nur von den Gerichten zu sprechen, die aufgetragen wurden, oder von dem Kartenspiel, das gleich folgen sollte." Ist einmal ein großer Dichter geladen, redet er am Ende kein Wort von der Dichtkunst, sondern ißt nur unausgesetzt, was die anwesenden Zaungäste, die auf seine Orakelsprüche gehofft hatten, enttäuscht. Aber den Dichtern ist es so am liebsten.

Katalog kommunikativer Knackpunkte: - Der verstörende Moment, wenn jemand im Gespräch plötzlich aus der Rolle fällt: "Da wir nämlich, was wir empfinden, stets zu verbergen trachten, haben wir auch nicht daran gedacht, wie wir es gegebenenfalls doch äußern würden. Plötzlich aber erhebt dann aus uns das unreine, unbekannte Tier seine Stimme, deren Klang unter Umständen denjenigen, der dies fragmentarisch, aber unwiderstehlich hervorbrechende Geständnis eines Charakterfehlers oder Lasters entgegennimmt, ebenso erschreckt wie das plötzlich indirekt und auf bizarre Weise herausgestammelte eines Verbrechers, der sich gedrängt fühlt, einen Mord zuzugeben, dessen man ihn nicht schuldig glaubt."

Unklares Inventar: sehr, sehr viele Namen: - der Herzog von Aumale, der Herzog von Broglie, die Prinzessin von Poix, Montalembert, Monseigneur Dupanloup, Coysevox, Joubert, Marie Rohan (Herzogin von Chevreuse), Herr von Luynes, Madame Ristori, Madame de Beaulaincourt, Madame de Chaponay, die Herzogin von Aosta, Madame de Montmorency, die Prinzessin von Parma, die Fürstin von Sagan, Augier, Meilhac, Halévy, die Prinzessin von Mecklenburg, Hannibal de Bréauté-Consalvi.

Verlorene Praxis: - In Gegenwart seiner Partygäste Moosrosen, Zinnien und Venushaar aquarellieren.

  • Einen rauhen Ton von sich geben, der bedeutet, daß man pflichtschuldigst lacht.

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