Schmidt liest Proust
Samstag, 23. September 2006

Berlin - III Die Welt der Guermantes - Seite 210-231

Es ist immer so entmutigend, wenn etwas nicht funktioniert, man möchte dann gleich alles hinschmeißen und sich für immer aus der Gesellschaft zurückziehen. Ich habe einen billigen Drucker, der, obwohl ich den Druckkopf mit einem speziellen Reinigungsset behandelt habe, den Schwarz-Weiß-Druck ganz eigen interpretiert - indem er nämlich manche Zeilen Schwarz druckt und manche weiß-, und einen teuren, den der Computer an seinem USB-Port nicht erkennt. Nun hätte ich fast für diesen Rechner, mit dem ich ins Internet gehe und nur wenig drucke, einen billigen, neuen Drucker gekauft, aber im letzten Moment fiel mir ein, daß der Rechner diesen an seinem USB-Port ja auch nicht erkennen würde. Also müßte ich entweder einen alten Drucker mit Parallelschnittstelle auftreiben, oder mir statt eines Druckers für 39 Euro, einen USB-Centrino-Adapter für 29 Euro besorgen, was doch absurd ist. Denn momentan kann ich meine Mails nicht ausdrucken und muß dauernd mühsam Mails aussortieren, damit es wieder weniger als 490 sind, weil mir sonst mein Mail-Provider alle paar Minuten Mails schreibt, daß meine Mailbox bald voll sei, wodurch sie dann tatsächlich bald voll ist. Ich bin also gezwungen, meine Mail der letzten 4 Jahre immer wieder durchzusehen, um doch noch eine zu finden, auf die ich verzichten kann, was natürlich immer schwerer wird, und es quält mich, dauernd Gott spielen zu müssen und ganze Existenzen aus meinem Archiv zu löschen, Menschen, die sich als temporäre Erscheinungen in meinem Leben erwiesen haben, von denen ich aber doch wenigstens eine kleine Erinnerungsmail aufbewahren möchte, aus reiner Pietät. Ich könnte die Mails kopieren und am anderen Computer ausdrucken, der den teuren USB-Drucker (der inzwischen, nach wenigen Monaten, schon nur noch die Hälfte kostet) erkennt, aber dazu kann ich mich nicht entschließen, weil ich ja einen funktionierenden Drucker besitze, den ich dank meiner USB-Kabel-Verlängerung problemlos an den Internet-Computer anschließen könnte, wenn dieser ihn nur erkennen würde. Und weil er das eigentlich müßte, lehne ich es ab, die Hoffnung aufzugeben und probiere jedes mal, wenn ich den Rechner anschalte noch einmal rum, ob es nicht doch funktioniert, wobei immer eine Stunde draufgeht. In keiner anderen Branche könnten es sich die Hersteller erlauben, Produkte anzubieten, für deren Inbetriebnahme ihre Kunden jedesmal ein halbes Leben brauchen. Im Lebensmittelbereich regt man sich über ein bißchen verfallenes Fleisch auf, das bisher noch niemandem in seinem Essen aufgefallen ist, aber im Computerbereich wird die überall angebotene Gammeltechnologie allgemein akzeptiert. Daß es eine Zeit in meinem Leben gab, in der ich mich zu Computern hingezogen fühlte, weil sie eine schillernde Welt waren, ist mir heute unverständlich. Computer sind ungefähr so etwas, wie Kloschüsseln, jeder hat eine in der Wohnung, aber man redet nicht darüber. Und das Internet ist die Kanalisation.

Seite 210-231 Die arme Rahel wird von Marcel nicht geschont. Als sie hinter den Kulissen zu ihr stoßen, macht sie für ihn einen "Prozeß der Zerstörung durch". Er vergleicht ihr Gesicht mit dem Mond, auch der zeige aus der Nähe "Protuberanzen, Flecke und eingekerbte Rinnen." Diesmal ist es ein Tänzer, der Saint-Loup eifersüchtig macht. Er übt hinter der Bühne noch für eine Balletteinlage und wirkt zwischen den anderen Herumstehenden "erfrischend wie der Anblick eines unter eine Menschenmenge verirrten Schmetterlings..." Saint-Loup droht ihr, ihr das Kollier doch nicht zu schenken. Sie deutet das als Erpressung. Damit ist das eigenartige Verhältnis zwischen Schenkendem und Beschenktem angesprochen, wie Adorno schreibt: "Die Spende ist mit Demütigung durch Einteilen, gerechtes Abwägen, kurz durch die Behandlung des Beschenkten als Objekt notwendig verbunden." Davon kann er sich ja eigentlich nur freisprechen, wenn er mit seinem Geschenk wartet, bis sie wieder getrennt sind. Sie kennt keine Gnade, mit einem Blick auf "Roberts verzerrte Züge" macht sie Bemerkungen über die kleinen Hände des Tänzers. Eigenartigerweise hat Robert, obwohl er wegen ihr rot anläuft, die Ruhe, den "drei Journalisten" die bei ihnen stehen, nahezulegen: "Würden Sie wohl die Güte haben, mein Herr, Ihre Zigarre wegzuwerfen, der Rauch schadet meinem Freund." Solch eine Aufmerksamkeit von Seiten meiner Freunde habe ich noch nie erlebt. "Würden Sie wohl die Güte haben, die Musik leiser zu stellen, die lärmende Vierergruppe vom Tisch neben dem Eingang rauszuwerfen, ihre Frisur zu überdenken, das Milchschaumgerät in den Keller zu verbannen und die Luft von herumfliegenden Pollen zu befreien, denn all das schadet meinem Freund."

Im Gehen dreht sich Rahel zu Saint-Loup um und sagt: "Ob diese kleinen Hände es auch so gut mit den Frauen verstehen? rief sie dem Tänzer vom Hintergrund der Bühne her mit einer künstlich melodischen und unschuldigen Naivenstimme zu, du siehst ja selbst aus wie eine Frau, ich glaube, man würde sich sehr gut mit dir und einer meiner Freundinnen verstehen." Aber Saint-Loup wirft sich nicht auf sie, um sie zu erwürgen, er bleibt immer noch ganz ruhig bei den rauchenden Journalisten. "Sie sind nicht sehr höflich", stellt er fest, um einem von ihnen aus heiterem Himmel eine Ohrfeige zu verpassen. Für Marcel verstößt dieser Akt gegen das Kausalitätsprinzip, weil er sich für ihn nicht aus der vorhergehenden Ruhe Saint-Loups ableiten läßt, er ist "eine Urzeugung des Zorns ex nihilo". Wie kann jemand so plötzlich die Beherrschung verlieren? Das ist vielleicht wirklich eine Besonderheit, in einer Gesellschaft, in der der alle Äußerungen durch Takt und Selbstdarstellung gefiltert werden.

Draußen geht Marcel neben Saint-Loup her, ohne Worte zu finden, die ihn beruhigen könnten. Dann verweilt er kurz an einer Ecke, um sich ins Gedächtnis zu rufen, wie Gilberte an dieser Stelle oft aufgetaucht ist. Ein paar Schritte weiter wird Saint-Loup von einem "ziemlich schlechtgekleideten" Mann angesprochen, wenig später schlägt er schon auf diesen Mann ein. "Es handelte sich um einen Spaziergänger mit bestimmten Passionen, der angesichts eines so schönen jungen Kriegers, wie Saint-Loup einer war, sich zu Anträgen hatte hinreißen lassen." Das erinnert mich an meine Geschichte "Ihr wollt doch bloß meinen Körper – Die Top 10 meiner Anmachen durch Männer", aber ich habe nie so reagiert, wie Saint-Loup, ich konnte sie ja eigentlich immer verstehen. Und nun: "Prügel wie jene, die er soeben ausgeteilt hatte, haben für Leute vom Schlage dessen, der ihn angesprochen hatte, den Wert, daß sie ihnen zu ernster Einkehr Anlaß geben, aber doch nur auf zu kurze Zeit, als daß sie sich bessern und so gerichtlicher Bestrafung entgehen könnten." Hören wir richtig? Kein Anflug von Ironie? "Wenn also auch Saint-Loup seine Prügel bedenkenlos ausgeteilt hatte, reichen solche Züchtigungen, wiewohl sie die Gesetze unterstützen, dennoch niemals aus, die Sitten dieser Menschen denen der anderen anzupassen."

Und nun geht es endlich in den Salon der Madame de Villeparisis (wir sind ja immer noch beim Verlauf eines einzigen Tages), einen drittklassigen Salon, was an ihrer Vergangenheit liegen muß. Sie hat in der Jugend zuviele Menschen vor den Kopf gestoßen und kann das jetzt auch nicht mehr ausbügeln. "Wie viele Frauenleben, die freilich wenig bekannt sind [..] erscheinen auf diese Weise in entgegengesetzte Perioden aufgeteilt, wobei die letzte ganz darauf verwendet wird, wiederzuerlangen, was man in der zweiten fröhlich in alle Winde verstreut hat!" Auch erkennt sie das Genie großer Künstler nicht "ihre Gabe erschöpfte sich darin, fein über sie zu spotten und ihrem eigenen Unverständnis eine geistreiche und anmutige Form zu geben." Damit kann man es im Journalismus heute ja schon sehr weit bringen. "Was Künstler als 'Geist' bezeichnen, erscheint der eleganten Gesellschaft als reine Prätention, denn, unfähig von dem gleichen Gesichtspunkt aus wie jene zu urteilen, ohne Verständnis für die geheime Anziehungskraft, die sie diesen oder jenen Ausdruck wählen oder einen bestimmten Vergleich ziehen läßt, verspüren die Weltleute in der Gesellschaft jener anderen eine gewisse Ermüdung und Gereiztheit, die sehr bald zur Abneigung wird." Und wie sehr ermüdet es erst, diese "Weltleute" immer bei Laune halten zu müssen, und sich dauernd zu verstellen, um sie nicht mit Geist zu ermüden und zu reizen.

Unter den Gästen ist ein Historiker, der ihr bei ihren Memoiren hilft, der aber nur, wenn es die Arbeit von ihm verlangt, sein Haus verläßt: "Unfähig, häufiger diese für andere ganz unproblematischen Ausflüge zu unternehmen, die ihn so viel Überwindung kosteten, als müsse er vom Mond niedersteigen, war er immer erstaunt, daß das Leben der anderen nicht ständig darauf eingerichtet war, ein Maximum an Nutzen für die jähen Kraftanstrengungen des seinigen in Bereitschaft zu halten." Und auch hier sieht man sich beschrieben, wenn man nach Wochen wieder einmal den Mond verläßt, sich zu seinen alten Freunden setzt und darunter leidet, daß diese so große Überwindung erfordernde Annäherung so wenig Ertrag bringt. Man ist zwar nur ein paar Ecken zu Fuß gegangen, aber geistig kommt man doch von einer Polarexpedition wieder und rechnet eigentlich auf die gleiche Zuwendung und die gleiche Neugier, die ein halbverhungerter Abenteurer bei seiner Rückkehr genießen würde. Statt dessen merkt gar keiner, wenn man wieder geht.

Unklares Inventar: - Zinnien

  • Maskarill

Verlorene Praxis: - Niemals einen Fuß in einen bestimmten Salon setzen, aus Angst, "sich dort durch die Gesellschaft von Arzt- und Notarsgattinnen gesellschaftlich zu deklassieren."

  • Wenn der König zu Besuch kommt, auch zu Hause einen Hut tragen "da der König überall in seinem Hause weilt, ist ein Herr dann nur mehr Gast in seinem eigenen Salon."

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