Schmidt liest Proust
Mittwoch, 20. September 2006

Berlin - III Die Welt der Guermantes - Seite 149-169

Als ich im letzten Jahr mit denselben chronischen Halsschmerzen, die mich zur Zeit wieder plagen, und die von keinen sonstigen irgendwie aufschlußreichen Symptomen begleitet werden, zum Hals-Nasen-Ohrenarzt ging, hatte dieser hektische Mensch die Frechheit, zu behaupten, mein Hals sei ganz in Ordnung, ich litte lediglich unter "Globus hystericus" und müsse viel trinken und mich entspannen. Weil die Untersuchung so kurz war, blieb ihm noch die Zeit, mir zu erzählen, er sei in Westberlin, nahe der Grenze aufgewachsen, und habe im für alle Ortsfremden verbotenen waldigen Sperrgebiet die besten Pilze gesammelt. Ein Arzt, der mir sagt, daß ich gesund bin, ist das nicht ein Widerspruch? Wie ein Schauspieler, der behauptet, ich sei gar kein Zuschauer, sondern selbst Schauspieler, oder wie ein Feuerwehrmann, dessen Arbeit darin besteht, Hausbesitzern zu bestätigen, daß ihre Häuser nicht brennen.

Seite 149-169 Ein bißchen hat es etwas von Abarbeiten, Proust muß eben allen Erscheinungen und eben auch allen, die für seine Zeit so neu sind, wie das Telefon, eine Proustische Deutung abgewinnen. Aber es ist schon ein Kabinettstück, wie er die Enttäuschung, die in der scheinbaren Nähe beim Telefonieren besteht, beschreibt, wo wir nur die Hand ausstrecken zu müssen meinen, um den Gesprächspartner zu berühren, aber keine Möglichkeit haben, es wirklich zu tun. Ein Gefühl, das er als "Vorwegnahme auch einer ewigen Trennung" deutet. (Manchmal ist er auch falsch verbunden, und hat einen Fremden in der Leitung. Dann hängt er den Hörer ein, und "erstickte damit die Zuckungen dieses klingenden Stumpfes".) Zum ersten mal auch telefoniert er mit der Großmutter, noch nie hat er ihr zugehört, ohne sie zu sehen. Ihre Stimme kommt ihm verletzlich und zart vor, fast brüchig. Dann wird die Verbindung auch noch unterbrochen. "Ich zitterte von einer Angst, die ich in weit entlegener Vergangenheit als kleines Kind einmal empfunden hatte, als ich sie in einer Menschenmenge nicht gleich sah, einer Angst, die weniger aus dem Bedürfnis kam, wieder zu ihr zu finden, als vielmehr aus dem Gefühl, daß sie nach mir suche und sich sagen müsse, daß auch ich sie suche; einer Angst, die jener überaus ähnlich war, die mir bevorstand für den Tag, da man zu denen spricht, die nicht mehr antworten können und denen man doch alles anvertrauen möchte, was man ihnen nicht gesagt, samt der Zusicherung, daß man selbst nicht leidet." Eine Neuerung der Kommunikationstechnik wird also zu einem Memento-mori-Generator. Man müßte einmal nachlesen, wie Kafka das Telefon im "Schloß" einsetzt, mir ist, als würde ich mich an eine Stelle erinnern, an der K. durchs Telefon nur unverständliches Gemurmel vom anderen Ende der Leitung vernimmt, aber ich finde sie nicht mehr. Auf jeden Fall eine interessante Dialektik von Nähe und Distanz, die Stimme der Großmutter, die er aus der Distanz zum ersten mal "sieht", und der Preis, den man für die Erkenntnis zahlt, daß man sich nicht berühren kann. Das klingt ein wenig nach der Geschichte von Odysseus und den Sirenen. Nur weil er festgebunden ist, kann Odysseus die Sirenen hören. Das Telefon bindet uns sozusagen auch fest.

Er faßt den Beschluß, nach Paris zurückzukehren. In einer eigenartigen Szene fährt Saint-Loup, der ihn nicht mehr verabschieden konnte, doch noch einmal im Wagen an ihm vorbei, und grüßt militärisch, ohne ihn zu erkennen. Und während Marcel in der Kaserne nicht zu ihm kann, sieht er sich die Parade vom Fenster aus an, wo er "bei einer Gruppe revierkranker Soldaten, Rekruten, die vom Marsch dispensiert waren..." steht, die sich über den fabelhaften Fähnrich Saint-Loup austauschen. "Ich sah Rittmeister Fürst von Borodino majestätisch vorbeitraben in der Illusion, wie es schien, er befinde sich bei Austerlitz [..] Hochaufgerichtet zu Pferd, mit etwas fettem Gesicht, Wangen von imperialer Fülle und helldurchdringendem Blick schien der Fürst völlig an irgendeine Halluzination hingegeben zu sein, so wie ich selbst es jedesmal war, wenn nach dem Vorüberfahren der Straßenbahn die auf das rollende Rädergeräusch folgende Stille mir von undeutlichen musikalischen Schwingungen durchzogen zu sein schien." Das ist schon die Ästhetik des Zufalls, die Verlegung der Quelle des ästhetischen Genusses nach innen. Wenn man sich einschwingt, wird alles, was man hört, zur Musik. Eine Halluzination bei "helldurchdringendem Blick". Vielleicht auch eine Art Beschreibung von Prousts Methode: genaues Observieren, bis man die Materie durchdringt und über das Sichtbare hinaus zu halluzinieren beginnt.

Wenn man heimkehrt und die anderen schon sieht, bevor sie einen sehen, genießt man "das wenig dauerhafte Privileg, das uns erlaubt, während des kurzen Augenblicks der Rückkehr überraschend unserer eigenen Abwesenheit beizuwohnen..." Durch die lange Abwesenheit wird ihm zum ersten mal bewußt, daß seine Großmutter nicht mehr die Jüngste ist. Das durch die Liebe erzeugte Bild des immergleichen Menschen ist für einen Moment gefährdet. Die "pietätvolle Liebe" ist noch nicht zur Stelle, und er sieht nur mit den Augen, nicht mit dem Herzen. So wie ein Kranker nach langer Zeit in den Spiegel blickt und "inmitten der verdorrten und verödeten Landschaft seines Gesichts die Nase mit schrägen Wänden rötlich und gigantisch wie eine ägyptische Pyramide hervorspringen sieht..." Und so sieht er beim Eintreten, wenn auch nur für Sekunden, die geliebte Großmutter "auf dem Kanapee sitzend, rot, schwerfällig, vulgär, krank, vor sich hindösend und mit etwas wirrem Blick über ein Buch hingleitend eine alte, von der Last der Jahre gebeugte Frau, die ich gar nicht kannte."

Unklares Inventar: - Eau des Souverains.

  • Königsblaues Sèvres.
  • Ein Tilbury.
  • Sehr viele Namen: Galliffet, Négrier, Geslin de Bourgogne (Offiziere), Thiron, Febvre, Amaury (Schauspieler), Fould, Rouher, Berthier, Masséna.

Selbständig lebensfähige Sentenz: - "Das Telephon war in jener Epoche noch nicht so im Schwange wie heute."

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