Schmidt liest Proust
Montag, 11. September 2006

Berlin - S.591-612

Gestern habe ich zufällig von einem Journalisten erfahren, daß Saint-Loup Gilberte heiraten wird. Bis es im Buch so weit ist, werde ich mich beim weiterlesen wie Gott fühlen, weil ich das Schicksal der Helden schon kenne. Es wäre aber ein größeres Vergnügen, es noch nicht zu kennen. Die Frage ist, warum? In Filmforen wird vor Spoilern gewarnt, und im Leben würde man sich vor Wahrsagern hüten, wenn man wirklich an sie glauben würde. Die meisten Fußballspiele sind ohne Interesse, wenn man weiß, wie sie ausgehen, bis auf die wenigen, deren spielerischer Reiz das Ergebnis in den Hintergrund rückt. Spannung kann über ästhetische Schwächen hinwegtäuschen. Man muß eigentlich Texte schreiben, bei denen es keine Rolle spielt, ob man sie zum ersten oder zum 100. mal hört, die jeder genießt, obwohl er schon weiß, was passiert, weil es um etwas anderes geht. Oder gerade weil man weiß, was passiert, wie bei Kindergeschichten? Wie in der Musik, wo man ein bestimmtes Motiv schon erwartet und beglückt ist, wenn es kommt und es einem Lust bereitet, wenn das Erwartete eintrifft. In der Musik gibt es keine Spoiler, wenn man mir sagt, am Ende werde sich alles in einem C-Dur-Akkord auflösen, beeinflußt das mein Hörgefühl nicht. Man könnte natürlich auch hier mehr irritieren, der Dirigent könnte Partituren variabel interpretieren und es seiner Laune überlassen, ob er den Schlußchor der 9. von Beethoven singen läßt, oder nicht. Das kann natürlich nur funktionieren, wenn der Zuhörer die eigentliche Fassung im Kopf hat, es ist also immer noch an die Erwartung gebunden. Manche Popmusiker versuchen, ihre Songs öffentlich zu zerstören, das hat etwas verzweifeltes, man kann sie verstehen, aber man liebt sie nicht dafür. Ist es nicht dümmlich, beim Lesen jedesmal die gleiche Befriedigung über eine Wendung zu empfinden, die man schon kennt? Und da man sie nur beim ersten Lesen nicht kennen kann, sind Wendungen nicht sehr interessant. Ich will bei Serien nie wissen, wie es weitergeht, es ist doch sowieso nur ausgedacht. In einer Langzeitdokumentation fasziniert es einen unendlich, was mit den Menschen im Lauf der Zeit passiert, aber das ist eben wirklich passiert. Aber sobald ein Autor Gott gespielt und sich ein Schicksal für seine Helden ausgedacht hat, fühle ich mich unterfordert. Dann könnte man sich auch den Episodenführer durchlesen und käme schneller zum Ziel. Trotzdem stört es mich, schon zu wissen, daß Saint-Loup Gilberte heiraten wird, aber vielleicht kommt es ja in meinem Exemplar auch gar nicht dazu, warum sollte in jedem dasselbe stehen?

S.591-612 Marcel liebt jetzt Albertine, "Mein Zimmer war mir auf einmal ganz neu." Die Gewohnheit bewirkt, daß man Dinge, die einem Unbehagen bereiten, aus dem Bewußtsein ausscheidet, sonst würde man es nirgends aushalten, aber sonst würde man auch öfter aufräumen. Jetzt ändert sich für ihn alles, und zwar "vom egoistischen Standpunkt der Liebe aus." Denn alles wird daraufhin bewertet, ob es der Frau "eine vorteilhafte Meinung" von einem gibt. Und plötzlich sieht man überall Schlieren. Aber: "...mein schon sehr lebhaft gewordenes Liebesgefühl für Albertine hatte zur Folge, daß ich abwechselnd Rosemonde und Andrée vorschlug, zu mir in den Wagen zu steigen, und nicht ein einziges Mal Albertine..." Bei der Strategie ist schon manchem der Hase entwischt. Zum Glück verfolgt er eine parallele Gegenstrategie, nämlich durch Vorwände und Diskussionen unbemerkt zu erreichen, daß er schließlich doch neben Albertine im Wagen sitzt.

Als sie eine Nacht in Marcels Hotel schläft, lädt sie ihn ein, sie nach dem Abendessen auf ihrem Zimmer zu besuchen. Nur die beiden wissen davon, was ihn in eine Hochstimmung versetzt: "Die geringfügigsten Bewegungen, wie zum Beispiel die, mit der ich mich auf der Bank des Fahrstuhls niederließ, waren mir angenehm, weil sie in unmittelbarer Beziehung zu meinem Herzen standen..." So etwas erreichen sonst nur ganz diszipliniert auf ihre Spiritualität konzentrierte Menschen. Aber als Verliebter ist jeder ein Mystiker.

Die Dinge, die den Hintergrund für so eine Liebeserfahrung bilden, und denen kein Außenstehender ansehen kann, was man in ihrer Gegenwart erlebt hat, werden zum "verschwiegenen Zeugen, zuverlässigen Vertrauten und unverletzlichen Hütern unserer Freuden". Nur daß die Kulissen niemand abbaut, wenn die Liebe ihr Leben schließlich ausgehaucht hat. Dann geht man immer noch täglich an den Laternen vorbei, an denen man gelehnt hat, und unter den Brücken durch, von denen man springen wollte. Jeder Ort, mit dem man irgendein persönliches Erlebnis verbindet, sollte aus dem Stadtbild entfernt werden, bis nur noch der Ernst-Reutter-Platz bleibt, der eigentlich von Natur aus keine Erlebnisse beherbergen kann.

Albertine liegt mit einem Schnupfen im Bett. Ihr nackter Hals und ihre hochroten Wangen versetzen Marcel in solch einen Rausch: "...daß durch ebendiesen Anblick das Gleichgewicht zwischen dem unermeßlichen, unzerstörbaren Leben, das mein Wesen durchwogte, und dem im Vergleich dazu so kärglichen Leben des Weltalls durchbrochen war." Eine gefährliche Situation für das Ich, wenn plötzlich das Draußen das Drinnen aufwiegt. Er ist ja gar nicht wiederzuerkennen, durchs Fenster sieht er die Dünen, diese "wie Brüste gerundeten Hügel". Immerhin keine Leuchttürme! "Hätte der Tod mich jetzt ereilt, er wäre mir gleichgültig oder vielmehr unmöglich erschienen, denn das Leben war nicht außerhalb von mir, sondern in meinem Innern..." Man sollte in Flugzeugen immer einen Platz für einen Verliebten reservieren, um vor dem Absturz sicher zu sein. Der Verliebte könnte auch direkt neben dem Piloten sitzen. Den Job kann man natürlich nicht lange machen, vor allem, weil solche langen Abwesenheiten jede Beziehung gefährden.

Unter dem Einfluß ihres nackten Halses stürzt sich Marcel auf Albertine, um sie zu küssen, aber sie "schellt mit aller Macht." Das ist freilich ein Widerspruch zu Blochs Theorie "man könne alle Frauen haben." Bei Marcel schwindet dadurch sofort das Interesse an ihrer Person. Der Wunsch "durch sie in ein sportliches Leben eingeführt zu werden" löst sich auf. "...meine im Intellekt wurzelnde Neugier darauf, was sie über diese oder jene Dinge denke, überlebte meinen Glauben, ich werde sie küssen können, nicht." Was soll man auch im einem Mädchen anfangen, das man nicht küssen kann? Das ist doch so nützlich, wie eine Ikone für einen Atheisten.

Unklares Inventar: - Die Tanzfiguren einer Pavane.

Verlorene Praxis: - Mit aller Macht schellen, wenn der Mann sich auf einen stürzen will, um einen zu küssen.

  • Dem Koch vom Diener ausrichten lassen, daß die Erbsen nicht zart genug waren.

Selbständig lebensfähige Sentenz: - "Das Golfspiel gewöhnt an einsame Freuden."

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