Schmidt liest Proust
Montag, 4. September 2006

Berlin - II Seite 467-487

Die kleine Verspätung in der Lektüre hat sich ergeben, weil ich gestern an einem Fußballturnier teilgenommen habe, das den ganzen Tag dauerte, und nicht dazu gekommen bin, wie geplant, in den Spielpausen Proust zu lesen. Es wäre ein markanter Ort für eine Proust-Lektüre gewesen, eine Heterotopie wie bei Foucault, weil es sich bei den ca. 60 Fan-Mannschaften meines alten Fußballclubs dem äußeren Anschein nach um Türsteher, Boxer und, wenn nicht um Rechtsradikale, so doch zumindest Liebhaber altertümlicher Schrifttypen handelte. Trotzdem wäre Proust nicht die falscheste Wahl gewesen, weil bei der ganzen männlichen Verbrüderung oder Hierarchiebildung und dem Zurschaustellen von tätowierten, muskulösen Körperpartien, unbestreitbar eine gewisse Homoerotik mitschwang. Der Torwart eines unserer neben uns am Spielfeldrand campierenden Gruppengegner, der vom frühen Morgen an Jägermeister trank, die Nacht aber wohl auch schon durchgemacht hatte, weshalb er sich, nach unserer Vermutung, in der Sonne nur durch die Wirkung von Kokain auf den Beinen halten konnte, war ein gut gelaunter Mittvierziger, der wohl sonst im Schlachthof Rinder vierteilte, einem aber hier, ab und zu mit seinen Pranken den Hintern tätschelte oder die Hose runterzog, und für jede vorbeigehende Frau einen aufmunternden Spruch übrig hatte: "Und was ist mit dir? Blasen? Mußt nur sagen." Ein Kollege meinte, er wäre auch gern so unmittelbar, wie dieser Hüne, der keine psychische Kontrollinstanz zu haben schien, sondern immer sofort sagte und machte, was ihm einfiel und dabei sogar manchmal eine gewisse Originalität an den Tag legte. Wobei von ihm auch normale Sätze abgekürzt und in einer heiseren Lautstärke geäußert wurden, wie man sie sich wohl auf Baustellen angewöhnen muß, um den Zementmischer zu übertönen. Wie kann man die Differenz einer Proust-Lektüre und eines Gesprächs mit solch einem Menschen beschreiben, wie er ja nur einen sichtbaren Auswuchs der Männerwelt darstellt, die meisten anderen sind bekanntlich genauso, nur nicht so hemmungslos und offen? Die Camouflage, zu der man der Menschheit gegenüber permanent genötigt ist, um nicht intellektuell, also arrogant bzw. ermüdend-kompliziert zu wirken. Besser, man würde aussehen, wie Saint-Loup, der "unter dem Lächeln des Hofmanns das Verlangen des Kriegers nach einem handelnden Dasein verbarg [..] Sein Kopf erinnerte an Türme alter Ritterburgen, deren sinnlos gewordene Zinnen zwar äußerlich sichtbar bleiben, im Innern aber als Teile eines Bibliotheksraums fungieren." So kommt man auch in der beschriebenen Gesellschaft zurecht, wenn man seinen inneren Bibliotheksraum hinter Zinnen verbirgt.

Seite 467-487 Marcel kommt von den Abenden in Rivebelle spät nach Hause und schläft seinen Rausch aus. "...nach einigen vergeblichen und von mehrfachem Zurücksinken auf mein Kopfkissen unterbrochenen Bemühungen, mich aufzurichten..." gelingt es ihm, von seiner Taschenuhr die Zeit abzulesen (eine Übung, die wohl auch unser Torwartfreund im Moment gerade vollführt). Schließlich folgt ein langer, endlich auch erholsamer Schlaf, der aber in Wirklichkeit nur eine halbe Minute dauert, wieder eine Studie zum Mysterium des Schlafs. Zwar hatte Marcel in Rivebelle zahlreiche bemerkenswerte Frauen gesehen, aber nicht angebissen: "Noch einmal wieder war ich der Unfähigkeit einzuschlafen, dem Weltuntergang, dem Zusammenbruch, der Nervenkrise entronnen." Aber Vorsicht, sicher kann man nie nicht sein, es ist immer möglich, daß aus der Erinnerung eine Wahrnehmung emporsteigt, die "ohne daß wir es wußten, einen größeren Reiz für uns hatte, den wir erst nach vierundzwanzig Stunden erkennen."

Nun sitzt in Rivebelle manchmal auch ein einsam wirkender, bärtiger, kräftiger Mann. Es ist der berühmte Maler Elstir. Und "noch etwas verspätet bei einem Lebensalter stehengeblieben, in dem die Begeisterung nicht ganz zu schweigen vermag..." schicken sie ihm einen Brief an den Tisch und Elstir lädt Marcel ein, ihn im Atelier zu besuchen. Was ist das für ein Mann? "Sicher hatte er in den ersten Zeiten gerade in seiner Einsamkeit mit Vergnügen daran gedacht, er werde durch das Medium seiner Werke aus der Entfernung denjenigen, die ihn verkannt oder beleidigt hatten, eine höhere Meinung von sich geben können. Vielleicht lebte er damals nicht aus Gleichgültigkeit so zurückgezogen, sondern aus Liebe zu den anderen, und wie ich auf Gilberte verzichtet hatte, um ihr eines Tages wieder von neuem unter liebenswerteren Farben zu erscheinen, bestimmte er sein Werk ganz gewissen Leuten, sah es als eine Rückkehr zu ihnen an, durch die sie ihn, ohne ihn wiederzusehen, dennoch lieben, ihn bewundern, mit ihm in Beziehung stehen würden..." Deshalb ist es ja auch so schlimm, wenn einem irgendwann die Feinde wegsterben. Oder wenn Björn Borg einfach seine Karriere beendet und Jimmy Connors plötzlich ohne seinen Haßgegner dasteht.

Obwohl ihn die Einladung zu Elstir hoch erfreut, schiebt Marcel den Besuch auf, weil er jeden Tag am Strand Dienst tun muß, um die Sechsergruppe sportlicher Mädchen nicht zu verpassen: "Diese Tage sind dann, wiewohl beschäftigungslos, beschwingt wie Arbeitstage". Und noch ohne sich für eine entscheiden zu können, träumt er davon, der Freund einer von ihnen zu werden, er wäre: "...in eine verjüngende Gesellschaft eingedrungen, in der Gesundheit, Gedankenlosigkeit, Lust und Grausamkeit, Ungeist und Freude herrschten." Wenn das kein intellektueller Selbsthaß ist! "Wieviel geduldige, aber keineswegs heiter gelassene Beobachtung muß man auf die scheinbar unregelmäßigen Sternenbahnen solcher unbekannten Welten verwenden..." Aber nicht nur, daß er das System nicht herausbekommt, nach dem sie am Strand erscheinen, er muß auch fürchten, daß sie jederzeit abreisen könnten: "...denn alles in allem wußte ich nicht, ob sie nicht nach Amerika gingen oder nach Paris zurückkehrten. Das allein genügte, um Liebe zu ihnen in mir hervorzubringen." Und wieder das eherne Gesetz der stets irgendwie selbstinduzierten Liebe: "Man kann Neigung für eine Person empfinden, aber um die Trauer auszulösen, jenes Gefühl des Unwiederbringlichen, jene Beängstigung, die der Liebe vorausgeht, braucht es – und diese ist damit vielleicht mehr als irgendeine Person das wahre Objekt, dessen die Leidenschaft angstvoll Herr zu werden versucht – die Gefahr der strikten Unmöglichkeit." In seinem Verlangen, die sportlichen Mädchen wiederzusehen, geht Marcel sehr weit: "Dadurch, daß ich meinen Stuhl schräg stellte, versuchte ich ein größeres Stück Horizont zu überblicken..."

Seine Großmutter leidet für ihn an "einer gewissen Enge des Denkens", weil sie nicht verstehen kann, warum er, anstatt einen großen Maler zu besuchen, sich plötzlich so außerordentlich für Golfspiel und Tennis interessiert. Aber das ist nur logisch, denn wir verlegen ja im Fall von Verliebtheit lediglich "einen Zustand unserer Seele" in die Frau hinein und infolgedessen ist "nicht der Wert der Frau, sondern das Niveau unsres Zustands einzig von Wichtigkeit..." Und es ist so, daß "die Seelenbewegungen, die uns ein an sich ganz unbedeutendes Mädchen verschafft, uns vielleicht erlauben können, tiefere Bezirke unseres Innern in unser Bewußtsein hinaufzuführen, persönlichere, entlegenere, wesentlichere Regionen, als das Vergnügen der Unterhaltung mit einem bedeutenden Mann oder selbst die bewundernde Betrachtung seiner Werke uns zu erschließen vermag." Endlich eine gute Replik, wenn ich wieder dafür belächelt werde, daß ich mir manchmal so gerne Video-Clips auf MTV ansehe, die doch scheinbar unter unser aller Niveau sind. Ich führe dann nur tiefere Bezirke meines Innern in mein Bewußtsein hinauf. Ist es ratsam, sich seine Partnerin nach diesem Bedürfnis auszusuchen? Aber Künstler brauchen ja Komplikationen, um das Feuer am köcheln zu halten. Das erklärt vielleicht, warum George Clooney, statt zu heiraten, mit einem Hängebauchschwein lebt, weil das Leben mit so einem Geschöpf sicher noch entlegenere Seelenbewegungen in einem bewirkt, als das mit einem ganz unbedeutenden Mädchen.

Verlorene Praxis: - nach Paris schreiben, um sich neue Hüte und neue Krawatten schicken zu lassen.

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