Schmidt liest Proust
Donnerstag, 25. Januar 2007

Berlin, Warschauer Straße, Firstbase-Internet-Café - VII Die wiedergefundene Zeit - Seite 387-407

Warum hört man Schriftstellern lieber zu, wenn sie von sich erzählen, als Verwandten oder Freunden? Warum projiziert man seine Gefühle in die Worte von Wildfremden und kriegt bei Nahestehenden den Mund nicht auf? Liegt es wirklich an der Qualität der Texte? Aber warum führen wir dann überhaupt noch Gespräche, wenn wir dabei ständig unter unserem Niveau bleiben? (oder sollten wir tatsächlich immerfort singen, wie in "On connaît la chanson? Ist nicht jede Äußerung, die kein Zitat ist, ohne Würze? Oder anders gesagt: kann man sich überhaupt äußern ohne zu zitieren?) Was unterscheidet einen Fremden, der einen auf einer Party mit sentimentalen Erinnerungen quält (vielleicht sogar an etwas, was einem selbst wichtig ist), von einem Autor, der in einem Text seinen verlorenen Paradiesen nachtrauert? Ist es die radikale Offenheit, die im direkten Gespräch peinlich berühren würde? Die formale Leistung? Von jemandem, den man als glücklich und standhaft schätzt, möchte man doch nicht erfahren, daß er in Wirklichkeit schon seit Jahren ein Selbstmordkandidat ist, während ein Autor ja scheinbar immer für eine Erfolgsgeschichte steht, schon weil wir ihn lesen.

Was macht man, wenn man einsehen muß, daß man in der Spannweite seiner Empfindungen und in der Struktur, die man der Selbsterzählung des eigenen Lebens täglich gibt, unbewusst immer lediglich eine tapsige und inkonsequente Version von Proust war? Wozu soll man Prousts Experiment beim Schreiben wiederholen? Der immer zwanghaftere Rückzug in die Erinnerung ist ja eher ein menschliches Schicksal als eine freie Entscheidung. Wenn man vorhat, die Zeit festzuhalten, kann man aber nur scheitern. Man versteht, wie stark Beckett Proustianer war, in "Das letzte Band" die verführerische Gewalt alter Tonbandaufnahmen, in "Oh les beaux jours", das Versteinern in einer rituellen Beschwörung der in Wirklichkeit längst vergessenen Vergangenheit. Oder Maria Schell, die auf ihrem Berghof die letzten Jahre von Fernsehern umgeben im Bett verbringt und sich ihre alten Filme ansieht. Oder Kane, dem ein Imperium und ein Anwesen von orientalischer Pracht den Schwung der Jugend und die verpasste Kindheit nicht ersetzen können.

Auf dem Spielplatz habe ich einen Jungen beobachtet, dessen kleines, ferngesteuertes Flugzeug sich in einem Baum verfangen hatte. Am Baumstamm kam er nicht hoch, er warf eine Weile vergeblich ein Stöckchen nach dem Flugzeug, es wurde schon dunkel. Da ich nie ein ferngesteuertes Flugzeug hatte, hatte ich mir einmal vorgenommen, nicht zu sterben, bevor ich mir eins gekauft hätte. Als Kind habe ich lediglich einmal ein Buch "RC-Flugmodelle und RC-Modellflug" aus dem VEB Verlag für Verkehrswesen besessen ("Als Lehr- und Lernmaterial für den Modellsport vom Zentralvorstand der Gesellschaft für Sport und Technik anerkannt und empfohlen"). Ich war so gemein gewesen, im Buchladen auf das einzige vorhandene Exemplar zu bestehen, obwohl ein größerer Junge, der bestimmt mehr damit anfangen konnte als ich, mich anflehte, es ihm zu überlassen. Natürlich nützte mir das Buch nichts, ich konnte mit meinen Elektronik-Kenntnissen keinen Sender nachbauen.

Wir haben das Flugzeug dann wieder freibekommen und der Junge rannte damit nach Hause. Vielleicht war meine Seele in letzter Zeit wie dieses Flugzeug und hatte sich in einem Baum verfangen. Und eines Tages wird es heißen: "Eine schwere Proust-Lektüre machte ihm zu schaffen, von der er aber schließlich doch noch einmal genesen konnte".

Seite 387-407 Rahel rezitiert, wie Schauspieler es so oft tun, etwas befremdlich, aber man kann sich daran gewöhnen, auch wenn man sich erst entscheiden muß, ob man es entsetzlich oder genial findet. Bloch hat bei diesen Versen: "...in Gedanken ausschließlich seine Vorbereitungen getroffen, um, gleich nachdem das Gedicht zu Ende war, wie ein Belagerter, der einen Ausfall versucht, hervorzustürzen und, wenn auch nicht über die Leichen, so doch wenigstens über die Füße seiner Nachbarn hinwegstürmend, die Vortragende zu beglückwünschen, sei es aus einer irrigen Vorstellung von seinen Verpflichtungen gegen sie, sei es aus bloßem Bedürfnis, sich zu bekunden."

Die Herzogin von Guermantes ist nicht mehr so glanzvoll und boshaft-witzig wie einst. "Wenn der Moment für ein witziges Wort gekommen war, unterbrach sie sich für die gleiche Zahl von Sekunden wie früher, sah aus, als zögere sie, als gehe etwas Schöpferisches in ihr vor, aber der Ausspruch, den sie zustande brachte, taugte dennoch nicht viel." Vielleicht werde ich so meine Tage als vorlesender Autor beschließen, einfach nur noch die Bühne betreten, schweigen und damit noch einmal die Größe der früheren Darbietungen heraufbeschwören, im Gedenken an die dann stürmisch applaudiert wird.

Die Herzogin ist übrigens fast geschmeichelt, daß ihr Mann wieder angefangen hat, sie zu betrügen, "weil es mich quasi jünger macht." Das ist eine schöne Pointe, die das Eheleben mit sch bringen kann. Sie erinnert sich nur sehr ungenau des Zeitpunkts von Marcels erster Bekanntschaft mit ihr, was ihm nicht gefallen kann, da so eine Laxheit in der Geschichtsschreibung ihres Lebens die wichtige Zeit der Schwärmerei und der zu ihr aufstrebenden Hoffnungen unter den Tisch fallen läßt.

Unklares Inventar: - Zuckerreibe.

  • Fagon, Arzt.
  • Géraudel-Pastillen.

Streitbare These: - "...denn Frauen finden es nett, wenn man noch ihrer Schönheit gedenkt, so wie Künstler gerührt sind, wenn man ihre Werke bewundert."

  • "...große Tragödinnen sterben oft als Opfer der in ihrem Umkreis entstehenden häuslichen Intrigen, wie zuvor schon vielmals am Ende der Stücke, in denen sie aufgetreten sind."

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