Schmidt liest Proust
Samstag, 20. Januar 2007

Berlin - VII Die wiedergefundene Zeit - Seite 287-307

Man sollte sich nicht zu sehr auf etwas freuen, hinterher fällt man in ein Loch. Die Freude auf das heutige Fußballspiel mit den Autoren hat mich eine Woche lang angetrieben, aber das Spiel war schrecklich, mein Fuß ist seit 7 Wochen entzündet, ich müßte wohl einmal eine Weile aussetzen, oder wie Sebastian Deisler gleich die Konsequenzen ziehen und meinen Rücktritt erklären, wenn Fußball zur Qual wird.

Jetzt ist die Laune schwarz, wobei ich mich frage, ob es sein kann, daß ich ein Wellental erreicht habe, denn dann hätte ich ja vorher etwas von einem Hoch bemerken müssen. Oder war das Hoch schon der gestrige Auftritt bei der Lokalrunde im Admiralspalast? Kann ich schon nur noch bei Auftritten Euphorie empfinden? Aber es war natürlich sehr intensiv. Hinterher hat mich z.B. eine Zuschauerin daran erinnert, daß die Frau in Schnitzlers "Traumnovelle" Albertine heißt. Dafür wußte ich, daß die Donau in der Nähe ihrer Heimatstadt Villingen entspringt, wir hatten nämlich auch zwei Stunden BRD im Geographie-Unterricht. Mir kam die Idee, einen Text darüber zu schreiben, daß ich noch nie Paddeln war, obwohl ich mir einmal eine wasserfeste Wasserkarte für die DDR gekauft habe und schon die Strecke herausgeguckt hatte, um bis nach Masuren zu kommen, aber meine damalige Freundin hatte Angst vor den Mücken. Ich habe weiter an meinem Forschungsprojekt "Geheimnisse der Frauen" gearbeitet und von drei Zuschauerinnen erfahren, daß Tomaten Äpfel schneller reifen lassen. Damit ergibt sich eine interessante Kette, da ja, wie ich inzwischen weiß, Äpfel Avocados schneller reifen lassen. Wenn man jetzt Avocados züchten würde, die Tomaten schneller reifen lassen, hätte man wieder einen Schritt zum Perpetuum mobile gemacht. Jemand sagte, "in dem Punkt bin ich altmodisch", weil er, wenn seine Freundin ihn für einen anderen verlassen würde, sie und sich erschießen würde. Aber dann war das nur eine Szene aus einem französischen Film mit… Romy Schneider! Während ich diese Gespräche führte, reifte in mir die Idee für einen Chaussee-Text über die richtige lateinische Wortbetonung. "Warum machst du Latein?" "Ich brauch das für mein Ego". Allerdings muß man "Ego" korrekt, also mit kurzem "E" aussprechen, dann finde ich den Dialog komisch. Ein Text des Kollegen Tube brachte mich auf eine großartige Geschäftsidee, man legt einfach morgens lauter Hüte vor verschiedenen Statuen in der Innenstadt, und die Touristen, die die Statuen mit verkleideten Stillhaltekünstlern verwechseln, werfen ihr Geld hinein. Niemand würde die Hüte klauen, man muß abends einfach nur das Geld wieder einsammeln gehen. Es dürfte sogar so viel dabei herauskommen, daß man für diese Arbeit jemanden anstellen könnte.

Der Blick vom Hof des Admiralspalasts auf den S-Bahn-Bogen war dann überraschend schön, weil die Perspektive ungewohnt war. Gleich um die Ecke habe ich früher immer auf die Straßenbahn Nr.22 gewartet, dort sind jetzt nur noch ein paar Gleisreste. Das Geräusch der um die Kurve biegenden S-Bahn war tröstlich, es ist schön, daß es noch Geräte gibt, deren Geräusche man nicht attraktiver für die jugendlichen Konsumenten machen kann.

Seite 287-307 Zwar hat ihn die künstlerische Erleuchtung ausgerechnet in einem Moment ereilt, als er sich aus der Einsamkeit wieder einmal in die Gesellschaft begeben wollte, aber der genaue Ort dieses Erlebnisses war immerhin eine Bibliothek, soviel Inszenierung muß schon sein. Wobei Bücher ja vielleicht auch nur eine Form gesellschaftlicher Zerstreuung sind. Es hat aber gar keinen Sinn, sich als Künstler aus psychohygienischen Gründen von der mondänen Gesellschaft fernhalten zu wollen, denn sie ist "ebenso außerstande, einen mittelmäßig zu machen, wie ein heroischer Krieg einen schlechten Dichter zu einem erhabenen macht."

Die Erfahrung, die mich auf meinem Klassentreffen in drei Monaten erwartet, finde ich bei Proust schon beschrieben. Denn jetzt geht er hinab in den Saal zu den alten Bekannten, die er ein paar Jahre nicht gesehen hat. Im ersten Moment denkt er, er sei auf einem Maskenball, und die Gäste hätten sich weiße Bärte umgehängt. Mancher scheint ein Mittel gefunden zu haben, "sein Gesicht mit Runzeln und seine Brauen mit struppigen Haaren zu versehen." Monsieur d'Argencourt, Marcels alter Feind, ist "zu einem gar keine Achtung mehr einflößenden alten Bettler geworfen." Er scheint völlig verschieden von sich selbst und dabei stand ihm für diese Verwandlung nur seinen Körper zur Verfügung. "Es war dies offenbar der äußerste Punkt, bis zu dem er ihn hatte bringen können, ohne daran zu sterben." Das ist schon sehr grausam beschrieben, viele Einladungen hätte Proust nach der Veröffentlichung wohl nicht mehr bekommen.

Das beunruhigendste an dieser Verwandlung ist aber, daß man in dem jetzigen Mann den früheren ja immer noch wiedererkennt, und umgekehrt nunmehr auch in dem früheren den jetzigen, weil die Möglichkeit "dieses an einen trotteligen alten Kleiderhändler gemahnenden Lächelns in dem korrekten Gentleman von ehedem schon vorgezeichnet war." Wie in einer Komödie gibt hier einer die "Inkarnation als possenhafter Todeskandidat". Und noch ein letztes Wort zu diesem armen Mann, er gleiche einer "molluskenhaften, mehr zuckenden als kriechenden Larve".

Aber der eigentliche Schock ist, daß Marcel selbst von diesen "spukhaften Greisen" genausowenig gleich erkannt wird. Jetzt, wo er versteht, wieviel Zeit für die anderen vergangen ist, muß das gleiche natürlich auch für ihn gelten. Und "wie die Posaunen des Jüngsten Gerichts" berühren sein Ohr verstörende Bemerkungen. Die Madame de Guermantes nennt ihn "meinen ältesten Freund" (ist er denn so alt?) Jemand anders tituliert sich "ihr sehr ergebener junger Freund". Oder man beruhigt ihn, die Grippe bekämen eher junge Menschen. Das sadistische Siezen sich noch für jugendlich haltender Personen ist ja inzwischen ein Topos.

Aber er ist doch gar nicht älter geworden! Er meint ja "seit jenem Augenblick nicht weitergelebt zu haben", als er Bloch "an der Schwelle des Lebens" kennenlernte. Und wie alt ist Bloch geworden! "Tatsächlich sah ich auf Blochs Gesicht übereinandergelagert jene schwächliche, immer Zustimmung ausdrückende Miene und die zittrigen Kopfbewegungen, die so schnell am Bremspunkt angelangt sind, Züge, die ich als eine geschickt bemäntelte Müdigkeit liebenswürdiger Greise gedeutet haben würde…" Man muß schon alle, die einen von früher kennen, rechtzeitig umbringen, damit sie nicht wie Spiegel sind, die einem den eigenen Verfall vor Augen führen. Auch seinen Partner sollte man an sich ketten und keine Sekunde allein lassen, damit er blind bleibt für die eigene Veränderung.

Verstorben: - Vater Bloch.

Verlorene Praxis: - Sich an gewisse Stücke bei Baudelaire zu erinnern suchen.

  • Mangels physischer Mittel, die auf dem Grunde seiner Seele ruhende Schlechtigkeit zum Ausdruck zu bringen, gut erscheinen.

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