Schmidt liest Proust
Montag, 22. Januar 2007

Berlin - VII Die wiedergefundene Zeit - Seite 327-347

Mit Achtzehnjährigen habe ich keine gemeinsame Sprache mehr. Wenn ich sie verstehen will, muß ich mich ihrer Welt nähern, wie ein Ethnologe. Wie muß ich mir eine heutige Achtzehnjährige vorstellen?

Sie guckt bei Männern auf die Nase, die Schuhe und die Hände. Sie stellt Kassetten zusammen mit guten Liedern, Lieblingsliedern und Risikoliedern. Aber dann traut sie sich nicht, sie dem Jungen zu geben und hört sie selber, während sie ihn von weitem beobachtet. Sie wäre gerne dünner, weil sie von starken Armen in die Luft gehoben und einmal im Kreis geschleudert werden will. Aber eigentlich behauptet sie das nur, weil sie weiß, daß es ein Klischee ist. Sie schreibt Aufsätze, bei denen der Lehrer viele Haken setzt, aber die meisten davon in Klammern. Sie findet es komisch, wenn ihr Name in ganz normale Sätze eingebunden wird, die an sie gerichtet sind. Sie fragt sich, ob man auf dem Schlagzeug einen traurigen Rhythmus spielen kann. Sie macht Abitur und hält im Kunst-Leistungskurs ein Referat über ostasiatische Landschaftsmalerei. Sie will sich, wenn sie bestimmten Männern begegnet, heimlich auf den Boden legen, um nicht zu kollabieren. Sie stellt sich dann immer im Profil auf, weil sie so am besten aussieht. Sie klopft sich die Schuhe ab, bevor sie in den Bus steigt und sagt dem Busfahrer Guten Morgen. Sie hat zum zehnten Geburtstag in einer Blindenbar ein selbstgeschriebenes Gedicht aufgesagt. Sie mag keine Schauspieler mit klobigen Nasen. Sie lernt Gitarre, weil sie in einen Jungen verliebt ist, der auch Gitarre kann. Sie wird von ihm enttäuscht und verliebt sich in ihren Gitarrenlehrer, der die moderne Gesellschaft haßt und sich in ihre beste Freundin verliebt, die ein großes Klaviertalent ist. Sie will am liebsten Comic-Zeichnerin werden und mag Donald Duck, aber nur von Carl Barks gezeichnet. Sie kann beim Joggen keine Musik hören, nur "Drei Fragezeichen", weil sie sonst immer zu atmen vergißt. Sie trifft nach langer Zeit ihre alten Freundinnen wieder, wundert sich, daß sie sie immer noch mögen und verschüttet aus Versehen ihren Saft über einem Laptop. Sie will ein bißchen unglücklich sein. Sie kennt das letzte Bild von Candy Darling. Sie findet, daß Mawil immer nur nackte Frauen mit kleinen Brüsten zeichnet. Sie mag keine Comics mit sprechenden Tieren. Sie ist genervt, wenn ihre Schwester ständig König der Löwen singt. Sie findet es schön, daß ihre Freundinnen sich daran erinnern, daß sie keine Paprika mag. Sie mag als einzige den "Mönch am Meer" von Caspar David Friedrich nicht. Sie ist genervt, wenn ihr Banknachbar bei "Analysis" immer kichern muß. Sie läuft am Strand einem wildfremden Jungen hinterher, weil er aussieht wie Jim Morrison und teilt ihm mit, daß sie ihn im Laufe dieser Woche noch küssen will. Sie bekommt manchmal Angst, wenn ein Junge, in den sie eigentlich verliebt war, ihr plötzlich vorkommt wie von einem anderen Planeten. Sie mag keine Milch, keinen Pfeffer und bei Joghurt nur solchen mit gelben Früchten. Sie schreibt eine Facharbeit über die Rezeption der Psychoanalyse bei David Lynch. Sie wird ohnmächtig, wenn sie Blut sieht, auch im Theater. Die anderen Zuschauer denken dann, sie schläft. Sie wünscht sich, daß jemand ihr ein Minnelied schreibt. Sie putzt ihr Bad und hört dabei ein Hörbuch über Timothy Leary. Sie spielt Bomberman auf dem Gameboy. Sie weint, wenn sie Ärzten von ihren körperlichen Leiden erzählen muss. Sie zuckt beunruhigend mit den Händen, weil sie immer eine bestimmte Tonfolge im Kopf hat, die sie mit den Fingern nachspielt. Sie fragt sich, warum sie so gerne andere Menschen ärgert. Sie hat als einzige in ihrem Bekanntenkreis keinen Führerschein. Sie hat einen kleinen Bruder, der das Mädchen, in das er verliebt ist, beim Spazierengehen vor jedem Bordstein hochhebt und unten absetzt, das Mädchen findet deshalb, er sei eine Klette, und sie muß ihren Bruder trösten. Sie gibt einem Mädchen, das ihr immer von ihrem Pferd und dem Reitstall erzählen will, Nachhilfe in Französisch. Sie kann sich nicht mehr erinnern, wie es war, zum ersten mal mit einem Jungen zu schlafen. Sie besucht jeden Mittwoch ihre Oma, bringt ihr eine Überraschung mit und liest ihr aus der Biographie von Günther Grass vor, wobei sie sich über dessen Stil ärgert. Ihre Oma legt ihr immer einen Schokoladentaler auf einen Teller, den sie ihr aufgehoben hat, obwohl sie Schokolade selber so gerne mag. Sie sieht genauso aus wie ihre Oma. Wenn sie verliebt ist, stellt sie sich vor, wie sie unter seinem Bett liegt, und die Unterseite vom Lattenrost beim Einatmen ganz leicht ihren Bauch berührt. Sie hatte mit zwölf viele Pickel, die ihr Vater, um sie zu trösten, mit Photoshop retuschiert hat. Sie behauptet riechen zu können, wenn im Essen Salz fehlt. Sie kann nicht mit Geld umgehen. Sie fragt sich, warum niemand mehr mit Füller schreibt. Wenn sie jemanden treffen will, gibt es einen Orkan, und sie kann nicht aus dem Haus. Sie bekommt seine Adresse heraus, schleicht in sein Treppenhaus und betrachtet seine Tür, um zu sehen, durch was für ein Treppenhaus er läuft und was er dabei denkt. Sie tauscht in Gesprächen gerne unauffällig die Position, damit sie sieht, was der andere die ganze Zeit in seinem Blickfeld hatte. Sie wirft gerne die Frage: "Hat jemand eine kleine Patrone?", in den Raum, obwohl sie weiß, daß inzwischen alle mit Kuli schreiben. Sie mag es, wenn in der Oper fünfstimmig gesungen wird. Sie spricht in Comicläden immer den Typen an, der keine Ahnung hat und sie zu dem anderen schickt, der aber gerade nicht da ist. Wenn der, der Ahnung hat, da ist, spricht sie trotzdem zuerst immer den an, der keine Ahnung hat. Sie würde gerne eine Ärztin werden, zu der sie auch selbst gerne hingehen würde. Sie findet Trenchcoats weiblich und meint, daß es wegen Audrey Hepburn eigentlich "die Trenchcoat" heißen müßte. Sie würde für den Mann, den sie liebt, alles anziehen, sogar ihr Skelettkostüm, für das sich noch nie eine Gelegenheit gefunden hat.

Seite 327-347 Mit den Jahren treten Familienzüge in den Gesichtern jedes Menschen hervor, als hätten sie bis dahin unsichtbar in seinem Inneren gekeimt. So bekommt manche mit 50 die gekrümmte Nase der Mutter, die Haut der Bankierstochter färbt sich kupfern, wie ein Widerschein des Goldes, das durch die Hände ihres Vaters gegangen ist, oder die Züge passen sich dem Stadtviertel an, in dem man lebt. Wie würde man dann nach 40 Jahren Prenzlauer Berg aussehen? Hoffentlich nicht wie Wolfgang Thierse.

Was ist die Gesellschaft ohne Gedächtnis? An ihr kompliziertes Beziehungsgeflecht erinnert sich nur noch Marcel. Die Identität der Guermantes ist nicht mehr immun gegen "tausend Fremdkörper", "unverschämte Domestiken" dringen in die Salons ein und trinken dort ihre Orangeade. Das Gefühl, daß ein Teil seiner Vergangenheit vollständig vernichtet ist, bekommt Marcel "durch die völlige Auflösung der Kenntnis jener tausend Gründe, jener tausend Nuancen [..] um derentwillen dieser oder jener, der sich dort jetzt noch befand, ganz naturgegeben an seinem Platze schien, während ein anderer, der sich Ellbogen an Ellbogen mit ihm bewegte, wie eine höchst fragwürdige Neuerscheinung wirkte."

Täglich sterben weitere der letzten Kenner der Genealogie, die noch wissen, wie verachtet jemand war, der heute hoch geschätzt wird, und welche viel höhere Stellung als dieser der verstorbene Swann einst hatte. Marcel kann zwar mit einer jungen, verständigen Frau plaudern, aber sie können nichts mit den Namen anfangen, die der andere anführt. Ihm wird durch "...die Unmöglichkeit der Verständigung, die sich im Gespräch mit der jungen Frau aus der Tatsache ergab, daß wir in einer bestimmten Gesellschaft mit einem Abstand von fünfundzwanzig Jahren gelebt hatten, ein wirklicher Eindruck des Historischen zuteil, ja es hätte dadurch der Sinn für Geschichte in mir gefestigt werden können." Eine Erfahrung, die man durch die Wende in ungewöhnlich jungen Jahren gemacht hat, da man mit der Frau vielleicht nicht fünfundzwanzig Jahre auseinander gelebt hat, aber fünfundzwanzig Kilometer.

Verstorben: - Prinzessin von Guermantes.

  • Monsieur Verdurin.

Verlorene Praxis: - Wie manche Dichter, die die Inspiration packt, seine Umgebung völlig vergessen und in Gesellschaft an seinem Werk weiterschaffen, und, während man "am Arm einer etwas erstaunt blickenden Dame zu Tisch" schreitet, "die Brauen runzeln und Grimassen schneiden."

  • Eine Dame sein, zu der der steilste soziale Aufstieg hinaufführt.
  • Sein Gesicht durch den Zug von Mechanisierung, den ein Monokel darin einführt, allen den schwierigen Verpflichtungen entziehen, denen ein menschliches Antlitz sonst untersteht.
  • Sich hinter seinem Monokel verschanzen, als sei es die Scheibe im Fenster einer elegant gefederten Kutsche.
  • Einen Salon führen, dessen Besucher sich auf eine einzige Person beschränken.
  • Gegen jemanden, der sich einem gegenüber mit hartnäckiger Unverschämtheit beträgt, als eine Art von Repressalie eine beleidigende Haltung einnehmen.

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