Schmidt liest Proust
Freitag, 5. Januar 2007

Berlin - VII Die wiedergefundene Zeit - Seite 5-25

Seit ein paar Jahren konnte ich meinen zu teuren Steuerberater nicht wechseln, weil ich mir vorstellte, daß die mit meinem Fall betraute Angestellte dann traurig wäre. Jetzt ist sie selbst gegangen, vielleicht war ich ihr lästig. Nicht mal meine Sachbearbeiterinnen halten es lange aus mit mir, und das, obwohl sie nur einmal im Jahr Post von mir bekam. Vielleicht habe ich ihr nicht genug verdient? Ein finsterer Gedanke, den die Mutter aus ihrer Lebenserfahrung heraus immer wieder einmal äußert: "Frauen wollen Sicherheit". Als Mann müsse man Geld mitbringen und unkündbar sein.

Die Mutter kann aber meinen Kummer nicht gleich anhören und muß zurückrufen, weil sie gerade "Sturm der Liebe" gucken, und der Vater wegen seiner Ohren so laut gedreht hat. Später tröstet sie mich, Kathrin sei todunglücklich aus Amerika vom Versuch, den langjährigen Freund zu heiraten, zurückgekehrt, und habe prompt im Fahrstuhl den Mann ihres Lebens kennengelernt. Wer weiß, was ich verpasse, weil ich, um meine Attraktivität zu steigern, immer die Treppen nehme? Während die Faulenzer dieser Welt die Schwäche der enttäuschten und auf den Fahrstuhl angewiesenen Frauen ausnutzen!

Die Mutter ist froh, daß sie ihre großen Lieben nicht bekommen hat, bei dem einen wäre sie schon seit 30 Jahren Witwe und die anderen sind inzwischen glatzköpfig und dickbäuchig. Mit einem hätte sie 11 Jahre nach Afrika gemußt, und ich wäre jetzt schwarz. Aber immerhin hat sie schon mit 27 geheiratet. Das solle mir aber keine Sorge machen, ihr Vater war 54. Allerdings hat von seinen 5 Brüdern außer ihm nur noch Onkel Ernst geheiratet, mit 53. Franz, Emil und Alfred sind Junggesellen geblieben, ihre Schwester Lisa hat ihnen in Insterburg den Haushalt geführt. Erst im Alter haben die Brüder zugegeben, daß sie immer die Bewerber von dem hübschen Mädchen fern gehalten haben, weil sie nicht auf sie verzichten wollten. Es habe Lisa aber gefreut, im Alter zu erfahren, daß es überhaupt einmal Bewerber gegeben habe.

Franz hat meiner Mutter als hochbetagter Mann aus dem Westen an ihre Arbeitsstelle geschrieben und sich beschwert, daß er nie heiraten konnte, weil ihr Vater Albert ihm als älterer Bruder die Tanzstunde nicht bezahlt habe. Außerdem bekam er keinen Koffer und konnte deshalb nicht verreisen, um sich woanders eine Frau zu suchen. Den Brief hat mein Vater lesen müssen, meine Mutter liest unangenehme Post nicht, sie hat noch Briefe, die seit 30 Jahren ungeöffnet sind, weil es sie so quält, daß sie sie noch nicht beantwortet hat.

Seite 5-25 Wieder ist er in Combray, aber er vermißt den Reiz, obwohl er dieselben Spaziergänge unternimmt wie als Kind. "Ich werde zum Schreiben niemals befähigt sein", kein guter Satz für die erste Seite eines Buchs, würde man heute aus Verkaufsgründen sagen. Wo ist "das unmittelbare, köstliche, alles erfassende Aufzucken der Erinnerung", fragt er sich?

Er wohnt bei Gilberte und sie rekapitulieren die Wendepunkte ihrer Bekanntschaft, wobei sich herausstellt, daß sie ihn von Anfang an wollte, während er vom Gegenteil ausgegangen ist. Entscheidende Gesten waren falsch interpretiert worden. Und zu manchen Zeiten konnte sie auch nicht, denn "da liebten Sie mich zu sehr, ich fühlte, wie Sie allem nachspürten, was ich tat." Na und?

Letztlich ist es aber traurig, wie wenig ihn das noch interessiert: "Und steht nicht tatsächlich zwischen uns und den Frauen, die wir nicht mehr lieben und denen wir nach Jahren von neuem begegnen, der Tod, ganz so, als gehörten sie dieser Welt nicht mehr an, da ja die Tatsache, daß unsere Liebe nicht mehr existiert, aus denen, die sie vordem waren, oder aus dem, der wir selber gewesen sind, etwas wie Verstorbene macht?"

Dabei war doch damals die Sache mit der für Blumen versetzten Chinavase gewesen, die Blumen hatte er ihr nie überreicht, weil er sie vorher auf der Straße mit einem anderen gesehen hatte. Das rührende Bild, das der großherzige Betrogene in dem Moment abgegeben hat, muß ihn selbst so begeistert haben, daß er noch lange davon geträumt hat, ihr eines Tages von seiner Geste zu erzählen. "Mehr als ein Jahr danach noch leitete, wenn ein Wagen auf meinen aufzufahren drohte, mein Verlangen, nicht umzukommen, sich einzig aus dem Wunsche her Gilberte davon zu erzählen."

Saint-Loup hat als Ehemann eher verloren. Um zu vertuschen, daß er "so" ist, umgibt er sich mit Geliebten, die er gar nicht liebt, und macht seine Frau eifersüchtig. Aber mit Marcel spricht er über die bewußten Neigungen nicht, davon habe er keine Ahnung, besser man frage ihn nach den Balkankriegen.

Unklares Inventar: - Verdüregemälde.

Verlorene Praxis: - Sich vor seiner Frau "teils aus wirklicher Traurigkeit, teils aus nervöser Unlust an diesem Leben..." mit kaltem Wasser übergießen, von seinem nahen Tod sprechen und sich aufs Parkett niederfallen lassen.

  • Depeschen schicken, deren Grundform lautet: "Kommen unmöglich, Lüge folgt."
  • Seinen Fortpflanzungseifer verdoppeln.
  • Mit so betonter Uninteressiertheit reagieren, daß man sein Monokel fallen läßt.
  • Einen alten Balzac durchackern, um sich auf dem Gesprächsniveau seines Onkels zu halten.

Katalog kommunikativer Knackpunkte: - "Der durchdringende Blick, der allen Guermantes eigentümlich war, gab ihm das Aussehen, als ob er alle Stätten, an denen er sich bewegte, einer Inspektion unterzöge..."

Selbständig lebensfähige Sentenz: - "Gilberte war wie jene gewissen Länder, mit denen man kein Bündnis zu schließen wagt, weil sie allzuoft die Regierung wechseln."

  • "Aber besonders, seitdem Körperübungen aller Art in Gunst stehen, hat die Muße ein sportliches Aussehen bekommen, selbst außerhalb der eigentlich dem Sport gewidmeten Stunden..."

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