Schmidt liest Proust
Mittwoch, 17. Januar 2007

Berlin - VII Die wiedergefundene Zeit - Seite 227-247

Die orale Kultur der Kneipentische, von deren Schätzen ich aufgrund meiner angeborenen Alkoholunverträglichkeit leider immer weitgehend ausgeschlossen geblieben bin. Ich weiß zwar inzwischen, daß man zum Gruß auf den Tisch klopfen muß, aber ich mache es sicher trotzdem irgendwie falsch (einmal? zweimal?) Außerdem müßte ich ständig aufs Klo, um mir heimlich Notizen zu machen, wenn Formulierungen fallen, wie: "So bremst der Hase!" (Im Sinne von: "Da gibt’s nichts zu diskutieren!") Die Kunst, solche Sprüche wirkungsvoll in seine Rede einzuflechten, das dabei immer vorhandene Bewußtsein für Originalität, ist etwas sehr literarisches, mit dem die eigene Sprachphantasie gar nicht mithalten könnte. Mit erfahrenen Kneipenschwadronierern könnte man es sprachlich nie aufnehmen. "Lohndrücker" besteht nach meiner Schätzung wenigstens zu 50% aus in der Kneipe mitgehörten Bemerkungen irgendwelcher Bauarbeiter.

Die Freude am mot juste, wenn man über seine Vergangenheit schreibt, kann schnell esoterisch werden, weil die damalige Sprache ja fast ausgestorben ist. Manchmal tauchen bei mir Wörter im Gedächtnis auf, die man als Kind täglich benutzt hat, seitdem aber nie wieder ("kafietsche", "funktionopelt", "Erbsenkatschie", "Zuckersand".) Ich sammle seit einer Weile Wörter, bei denen ich noch weiß, wann ich sie zum ersten mal gehört habe. "Bestseller" stand auf der Banderole eines Buchs von Thor Heyerdahl, das im Schlafzimmer meiner Eltern lag (ich habe lange an dem Wort herumgerätselt und es für einen Druckfehler gehalten, weil es doch "Besteller" heißen müßte. Vermutlich habe ich mir den Moment, und wie das Schlafzimmer damals aussah, nur wegen dieser Irritation gemerkt.)

"Du hast doch ne Macke" hat ein auf einem Klettergerüst sitzendes dunkelhäutiges Mädchen zu einem Jungen gesagt, als wir einmal auf einem Spielplatz im Tierpark waren.

"Ditt is urst", hat mein Bruder gesagt, als wir auf dem Forckenbeckplatz mit aus Stöcken gebauten Gewehren Tiefflieger abschossen. Wobei ich dachte, daß es sich bei dem Stoffetzen, den er uns seine Freunde sich zur Tarnung an ihre Gewehrläufe gebunden hatten, um ein "Urst" handelte.

"Ditt macht Lunte", hat am ersten Tag im Ferienlager ein Junge gesagt.

"Rowdy": Frau Steinbach, die Katechetin der Kirchengemeinde spielte im Kindergarten auf dem Klavier Flohwalzer, und wir tanzten dazu um einen Haufen Karten mit bunten Bildern. Wenn Frau Steinbach zu spielen aufhörte, durfte man sich eine Karte nehmen. Auf einer war ein Mann mit Sombrero zu sehen, mein bester Freund sagte: "Das ist ein Rowdy."

"Das geht dich einen feuchten Kehricht an", habe ich ein Mädchen seiner Schwester auf die Frage, wo wir beide so lange gewesen seien, antworten hören.

"Bastonade" stand in einem Mosaik-Heft.

"Oxer": wir waren im Nachbardorf bei einem Turnier im Springreiten, und über Lautsprecher wurden die Hindernisse angesagt. Ich war enttäuscht, weil ich vergeblich nach einem Ochsen suchte.

"Striptease", war in einem Hase-und-Wolf-Film zu lesen, den die Mutter einer Klassenkameradin beim Kindergeburtstag zeigte, auf einer Art russischem Super-8-Format. Der Wolf geriet in dem Film auf die falsche Bahn, rauchte, trank und ging schließlich zum Striptease (natürlich Schtrip-te-a-se gesprochen).

usw.

Gestern fiel mir die Vorsilbe "geheim" auf, die einem als Kind ja alles veredeln konnte. Ein "Geheimfach" war etwas ganz anderes als ein gewöhnliches Fach, ebenso "Geheimtinte", "Geheimversteck", "Das ist geheim!" Das Gefühl, das sich mit Wörtern verbindet, und das man nicht kommunizieren kann, wenn man sie damals nicht auch benutzt hat. Übersetzen dürfte unmöglich sein. Es hat mich immer viel zu sehr behindert, wenn ich ausländische Freundinnen hatte, und man auf Spanisch oder Englisch nicht berlinern konnte.

Seite 227-247 Analyse der Natur des Glücks, die ihm die Madeleine-Eindrücke verschaffen, nämlich daß er in ihnen "die Essenz der Dinge genießen konnte, das heißt außerhalb der Zeit." Wodurch er "eine unbändige Lust zu leben verspürte." Die Wirklichkeit hatte ihn oft enttäuscht, weil seine Einbildungskraft, "die mein einziges Organ für den Genuß der Schönheit war, sich nicht dafür verwenden ließ: auf Grund des unumstößlichen Gesetztes, daß einzig das Abwesende Gegenstand der Imagination sein kann." Anders bei den Madeleines, bei denen nicht nur die Einbildungskraft genießt, sondern auch die Sinne aktiviert werden.

Für diese Momente muß aber das unwillkürliche Gedächtnis verantwortlich sein, alles andere ist nur das Blättern eines Sammlers in seiner Kollektion von Gedächtnisbildern. Die unwillkürlichen Erinnerungen kann man nicht selbst wählen, wobei "gerade dies das Zeichen ihrer Echtheit war."

Alle anderen Vergnügungen, wie große Gesellschaften oder Freundschaft, sind nur Täuschung. Wer mit Freunden redet gebe sich dem holden Wahn hin, dem Irrtum eines Narren "der etwa glauben würde, die Möbel könnten leben und mit ihm sprechen."

Und wie klammert man sich an "die Betrachtung der Essenz der Dinge"? Wozu er jetzt schon entschlossen ist. Es habe keinen Sinn, die Erinnerungsorte wieder aufzusuchen, die Eindrücke würden dort eher verlorengehen. "Die einzige Art, sie nachhaltiger zu genießen, bestand in dem Versuch, sie vollständiger da zu erkennen, wo sie sich befanden, das heißt in mir selbst, sie bis in ihre Tiefen klar und deutlich zu machen." Soll man sich dann vorstellen, daß die jahrelange Klausur in seinem Zimmer für Proust gar kein Opfer war, das er für sein Werk erbracht hat, sondern die intensivste Existenzform und das dabei entstandene Werk nur ein Abfallprodukt?

Nur das Lesen des Buchs in unserem Innern ist ein Schöpfungsakt, und was die Autoren in ihren Programmen formulieren, wenn sie Politik, Arbeiterbewegung oder großen Ereignissen hinterherschreiben, aus dem unsouveränen Bedürfnis heraus, den vermeintlichen Elfenbeinturm zu verlassen, sind nur Entschuldigungen "um nur jenes Buch nicht entziffern zu müssen." Genie heißt, sich vom Instinkt leiten zu lassen. "Der Instinkt diktiert die Pflicht, der Verstand aber liefert die Vorwände, um sich ihr zu entziehen." Wenn man sich vornimmt, auf seinen Instinkt zu lauschen, wird die Kunst "das Wirklichste, was es gibt, die strengste Schule des Lebens und das wahre jüngste Gericht." Wir sind dem Kunstwerk gegenüber keineswegs frei, da es "in uns bereits präexistiert." Einen künstlerischen Sinn besitzen diejenigen, die "bereit sind, sich der inneren Wirklichkeit zu unterwerfen..."

Im übrigen habe seine Mutter früher die falschen Bücher geschätzt "bevor sie langsam ihren literarischen Geschmack nach dem meinen bildete..." Es ist doch schön, wenn man Kinder hat, die sich nicht zu fein sind, einen auf ihr Niveau heraufziehen.

Unklares Inventar: - Perkalvorhang.

Selbständig lebensfähige Sentenz: - "Denn die wahren Paradiese sind die Paradiese, die man verloren hat."

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