Schmidt liest Proust
Donnerstag, 18. Januar 2007

Berlin, Warschauer Straße, Firstbase-Internet, Orkanböen - VII Die wiedergefundene Zeit - Seite 247-267

Beitrag unter Vorbehalt, wegen Orkan schmeißen sie mich aus dem INternetcafé raus, nud ich kann nicht mehr koriergiren.

Gestern bekam ich einen Anruf von einer Mitschülerin, die Stimme hatte sich verändert, wir haben uns 20 Jahre nicht gesehen, aber an der Berliner Diktion habe ich mein Viertel erkannt. Es wird also in diesem Jahr unser erstes Klassentreffen geben. Mehr als davor, sich nach so langer Zeit wiederzusehen, habe ich Angst davor, die Leute eben nicht wiederzusehen und auch selbst nicht mehr erkannt zu werden, wo ich mich doch innerlich überhaupt nicht verändert habe.

Ich hatte nicht geahnt, wie wenig man als Junge von den Mädchen wußte, obwohl man jeden Tag zusammen war! Weder, daß der Sportlehrer als attraktiv galt, noch, daß alle auf diesen einen Mitschüler scharf gewesen sind. Der Sportlehrer war doch ein Lehrer und der Mitschüler spielte keinen Fußball! Ich staune auch immer, wieviel andere vergessen haben. Ist mein Gedächtnis für diese Zeit wirklich besonders ausgeprägt? Aber vielleicht bildet sich meine Identität ja durch das Vergessen der anderen, weil wir sonst alle gleich wären.

Manche erinnern sich an komplette Klassenfahrten nicht mehr. Im Geist gehen sie die leeren Stellen in den Bankreihen ab, wo Mitschüler saßen, an die sie sich nicht mehr erinnern, und die verschwunden sind wie Kriegstote. Ich könnte jeden von ihnen mit einem persönlichen Erinnerungskonfekt beschenken, mit einem Bild von ihm, das ich für ihn aufgehoben habe. Es sind allerdings meist völlig bedeutungslose Szenen, oder zusammenhanglose Sätze, wobei man sich fragt, ob sie nicht doch eine Bedeutung enthalten, wenn das Gedächtnis sie für einen ausgewählt hat. Vielleicht liegt die Bedeutung im Bildhintergrund, den man nicht mehr erkennt? Ich sehe, wie ein Mitschüler mir am ersten Schultag im neuen Wohngebiet seinen Pfannkuchen von der Schulspeisung schenkt. Dann beschließt er, daß wir nach Hause rennen müßten, und wir rennen, obwohl es keinen Grund dafür gibt. Warum habe ich mir das gemerkt? Und die Art, wie sein Körper sich dabei nach vorn streckte, von wo der Wind durch die Lücken zwischen den Neubauten blies?

Die Konsistenz der innen schwarz gestrichenen Preßholzschulbänke im Biologieraum, in denen man mit der Zirkelspitze Bohrungen vornahm. Das sonnenwarme Parkett in der Turnhalle. Der von der Hitze aufgeweichte Teerbelag auf dem kleinen Bunker. Die Stimme der "Netten", einer Kassiererin im Konsum, die immer bei der Arbeitmitsprach. Die strengen Dirigierbewegungen der Klassenlehrerin, wenn wir morgens im Chor sangen. Die Minilikörflaschensammlung, die die Eltern von A. in ihrer Schrankwand hatten. Jeder aus der Familie durfte sich zu Geburtstagen mit Schnapszahl eine Flasche aussuchen, beim 11. war ich dabei und staunte. Man rechnete sich aus, wieviele Flaschen A. in ihrem Leben noch bekommen würde und dachte: die hat’s gut!

Bei meiner Anruferin wusste ich noch den Geruch des Credo-Parfüms von unseren Klassendiskos. Wir waren uns auch einig, daß die Neubau-Wohnungen jeder Familie verschieden rochen. Wenn man diese Gerüche benennen könnte!

Für wen ist das noch relevant? Ich soll beim Klassentreffen etwas vorlesen, das wird wie beim Veteranentreffen der ehemaligen U-Boot-Besatzung, hoffentlich sind wir wenigstens noch vollzählig. Nicht einmal die, die jetzt im Viertel leben, haben noch etwas mit unserer Zeit zu tun. Es sind oft die Eltern, die geblieben sind, nachdem die Kinder ausgezogen sind. Bei ihrem Einzug waren sie jünger als ich heute. Ich hatte mir nie klargemacht, dass alle meine Mitschüler aus dem Altbau stammten, wie ich, und sich an eine Zeit vor dem Neubaugebiet erinnerten.

Wenn ich etwas vorlese, was ich wirklich gut finde, heulen hinterher alle, oder sie sind beleidigt. Ich träume immer noch von dieser Klasse. Natürlich spielen wir immer Fußball auf dem Asphaltplatz im Hof, der inzwischen abgerissen wurde, dort hängt jetzt ein Basketballnetz. Das Scheppern des Gitters, das einem sagte, daß unten jemand spielte. Vielleicht sollten wir einfach wieder dorthin ziehen und weiter zusammen Fußball spielen, jetzt als Herrenmannschaft. Ich dachte damals immer, dass ich ein phantastisches Team aus den Jungs aus dem Viertel zusammenstellen könnte.

Was haben die Mädchen eigentlich in den unzähligen, langen Nachmittagsstunden gemacht, wenn wir Fußball gespielt haben? Mit irgendetwas müssen sie sich doch beschäftigt haben? Manchmal sah man am Horizont ein paar bunte Kleider vorbeigehen, aber wohin waren sie unterwegs?

Seite 247-267 Wir sind immer noch bei der einzigartigen Macht der Erinnerung, ohne die man nichts ist. "Meine Person von heute ist nur ein aufgelassener Steinbruch, dem selber alles, was er enthält, untereinander gleich und monoton erscheint, während aus ihm jede Erinnerung gleich einem Bildhauer Griechenlands unzählige Statuen zieht."

Nur die Erinnerung kann helfen, aufsuchen soll man diese Orte nicht und auch nicht die alten Bücher wieder in die Hand nehmen, weil "solche vom Geiste hinterlassenen Bilder vom Geiste ausgelöscht werden. Den alten schiebt er neue unter, die nicht mehr die gleiche Macht der Wiederauferweckung haben." Das war immer meine Angst, neue Bilder über die alten zu legen.

Ein wenig Literaturkritik: was ist, wenn das Kunstwerk sich so verfeinert, daß der Arbeiter es nicht mehr versteht, sondern nur noch der "Müßiggänger", der für diese Komplikationen die Zeit mitbringt? Alles Unsinn, sagt Proust, er hat "genügend mit Damen und Herren der Gesellschaft verkehrt, um zu wissen, daß sie die wahrhaft Ungebildeten sind und nicht die Elektrizitätsarbeiter." Ein gehöriger Optimismus! Es "langweilen volkstümliche Bücher die Leute aus dem Volke ebensosehr, wie sich Kinder mit Büchern langweilen, die speziell für sie geschrieben sind." das Volk, von dem er spricht; ist inzwischen leider auch nicht mehr dasselbe.

Traurig, die bei der Gelehrsamkeit stehengebliebenen Künstler, die nicht zu ihren Instinkten zurückkehren. "Diese eigenwilligen und unfruchtbaren Abenteurer sollten uns rühren wie die ersten Flugzeuge, die noch nicht die Erde verlassen konnte, denen zwar das geheime, noch unentdeckte Mittel fehlte, doch das Verlangen des Fliegens schon innewohnte." Aber sollen denn alle wie Proust vorgehen? Wer sollte dann die ganzen Recherchen lesen, die dabei entstehen? Vielleicht ist die Popularisierung der Psychoanalyse und die Verbreitung der Selbsterzählung ja ein Symptom genau davon.

Eines hat sich bis heute nicht geändert: "Man zog einem Bergotte, dessen gefälligste Sätze in Wirklichkeit eine viel tiefere Selbsteinkehr erfordert hatten, Schriftsteller vor, die tiefer schienen einfach deshalb, weil sie nicht so gut schrieben." Die "Themen" werden von den Romanschriftstellern überschätzt, es geht um den Stil, der "seine Art zu sehen" ist. Man muß die "Windstille des Glücks" verlassen.

Die häufige Frage: warum schreiben sie? wollte ich immer zurückgeben, weil ich mir im Gegenteil gar nicht vorstellen kann, wie man ohne zu schreiben leben kann: "...jene Wirklichkeit, deren wahre Kenntnis wir vielleicht bis zu unserem Tode versäumen und die doch ganz einfach unser Leben ist. Das wahre Leben, das endlich entdeckte und aufgehellte, das einzige infolgedessen von uns wahrhaft gelebte Leben, ist die Literatur."

Und jetzt begreift Marcel endlich, daß er nicht etwa ein zu zerstreutes und unbedeutendes Leben geführt hat, weil er nie ein Thema für seine Bücher finden konnte, sondern daß sein Leben, egal, was es mit sich gebracht hat, das Material seines Werke ist.

Unklares Inventar: - Schüler Foucquets.

  • Peremptorischer Ton.
  • Selbstkritik im Geiste Port-Royals.

... Link


Online for 8026 days
Last update: 14.08.11, 11:14 Mehr über Jochen Schmidt
status
Youre not logged in ... Login
menu
search
calendar
recent updates
Neues Blog
Ein Aufenthalt in Bukarest hat mir Lust gemacht, wieder ein Blog zu beginnen....
by jochenheißtschonwer (14.08.11, 11:14)
Das Buch ist da
Lange war es nur ein Blog, jetzt ist es endlich ein...
by jochenheißtschonwer (28.09.08, 19:19)
Gibt es ein Leben nach
dem Proust? Liebe Blogleser, ich danke jedem einzelnen von Euch...
by jochenheißtschonwer (30.01.07, 21:50)
Berlin - VII Die wiedergefundene
Zeit - Seite 427-447 (Schluß) - Was ham wirn heute...
by jochenheißtschonwer (28.01.07, 16:25)
Berlin - VII Die wiedergefundene
Zeit - Seite 407-427 Eisiger Wind blies mir ins Gesicht,...
by jochenheißtschonwer (27.01.07, 01:37)
Berlin, Warschauer Straße, Firstbase-Internet-Café -
VII Die wiedergefundene Zeit - Seite 387-407 Warum hört man...
by jochenheißtschonwer (25.01.07, 19:02)

RSS Feed

Made with Antville
Helma Object Publisher