Schmidt liest Proust
Freitag, 19. Januar 2007

Berlin - VII Die wiedergefundene Zeit - Seite 267-287

Mein gieriges Interesse an Krieg und Kriegsfilmen, natürlich habe ich es nur, weil ich nie einen Krieg erleben mußte. Menschen, die wirklich so etwas hinter sich haben, sehen sich das lieber nicht an. Im Moment scheint mir, daß mir auf ähnliche Weise mein Vergnügen an französischen Eifersuchtsdramen schwinden könnte. Meistens spielt darin Romy Schneider eine Frau, der ihr Mann nicht reicht, und die deshalb manchmal nächtelang bei kürzlich wieder aufgetauchten Ex-Freunden verschwindet, um später kommentarlos wieder aufzutauchen. Oder "La piscine", wo sie mit Alain Delon einen Glutsommer in einem Haus im Süden Frankreichs verbringt. Schon wie sie willig vom Geturtel weg zum Telefon eilt und gleich ganz aufblüht, als ihr reicher Ex-Mann dran ist, den sie natürlich sofort einlädt, sie in ihrer Idylle zu besuchen. Und als er ankommt, wie sich schon in der ersten Sekunde in den kleinsten Gesten der kommende Verrat ankündigt. Vielleicht weiß sie es ja wirklich selbst in dem Moment noch gar nicht, das sagen sie ja immer hinterher. Sie braucht einfach ein wenig Spannung im Leben, um sich nicht zu langweilen. Trotz aller Beteuerungen liegt man doch am Ende immer richtig mit eifersüchtigen Vermutungen, und leider beschleunigt man dadurch auch noch den Gang der Dinge. Alain, der Versager, dem sein einziges Buch mißglückt, Selbstmordversuch schon mit 18. Bevor er Romys Ex-Mann umbringt, rät der ihm wegen seiner Eifersucht: Versuch nicht deine Umwelt zu verändern, ändere dich.

Oder Madame Bovary, dieses gelangweilte Miststück, mit dem ich mich immer identifiziert habe, weil sie für den an der Dumpfheit seiner Umgebung leidenden Künstler stand. Aber mit einem Grafen aus der Nachbarschaft anbandeln! Oder dieses anstrengende Scheusal aus "Das Piano"... Immer sind es die einfältigen, treusorgenden Männer, die ihre nach höherem strebenden Frauen zu Tode langweilen. Und selbst bei "Ironia sudbij", dem sowjetischen Silvesterklassiker, den ich jedes Jahr sehe, identifiziere ich mich plötzlich mit dem dümmlichen, betrogenen Bräutigam, der anfangs noch scheinbar völlig übertrieben reagiert, als er am Silvesterabend einen Fremden in der Neubauwohnung seiner Zukünftigen antrifft, der dort aber nur völlig betrunken gelandet war, weil sein Schlüssel zufällig paßte. Der Bräutigam glaubt seiner Braut nicht, daß sie den Fremden ja schnellstens aus der Wohnung schmeißen wollte, was ihr nur nicht gelungen war. Am Ende kriegen sich natürlich der Betrunkene und die schöne Braut, und man ist tief bewegt. Hatte der Eifersüchtige nicht im Grunde schon vor den Akteuren geahnt, was in ihnen vorging? Oder hat er es durch sein hysterisches Verhalten selbst provoziert? Ach, Liebespaare, ihr seid so öde in euerm vorhersehbaren Glück, die eigentlichen Helden sind die Betrogenen, denen niemand aus dem Publikum die Frau gönnen würde!

Seite 267-287 Das heikle Verhältnis von Leben und Werk, Modell und Figur. "Selbst noch die – in ihren Gebärden, ihren Reden, ihren unwillkürlich ausgedrückten Gefühlen – einfältigsten Menschen künden Gesetze, die sie selbst nicht erkennen, die aber der Künstler an ihnen erspäht." Nur, daß niemand sich gerne zum Gegenstand eines Werks gemacht sieht, weil die wenigsten dieselbe abstrakte Haltung dazu einnehmen, wie der Autor. Wenn ich eine Peinlichkeit beschreibe, die jemandem passiert ist, oder eine Sehnsucht, von der niemand wissen darf, setze ich mich dem Vorwurf aus, meine Umwelt auszunutzen, oder keine Phantasie zu haben für eigene Geschichten. Dabei sind das nur Beispiele, anhand derer man etwas allgemeines beschreibt. "Wegen dieser Art des Beobachtens hält die rohe Masse den Schriftsteller für boshaft, sie hält ihn aber zu Unrecht dafür, denn in einer Lächerlichkeit erkennt der Künstler einen schönen allgemeingültigen Zug, er legt ihn der beobachteten Person ebensowenig zur Last, wie der Chirurg sie deswegen geringschätzen würde, weil sie an einer ziemlich häufig auftretenden Form von Kreislaufstörung leidet..." Der Autor mokiert sich in Wahrheit sogar viel weniger als andere über solche Lächerlichkeiten, er wertet sie ja nur danach, ob sie gutes Material sind oder nicht. Jede Art, in der jemand im Werk vorkommt, ist eine Hommage, die einzige Beleidigung wäre, nicht vorzukommen.

Und auch, was uns zustößt, lernen wir abstrakt und als Material zu sehen (die Attraktivität von Heiner Müller, denn kein Autor hat, zumindest in seiner Selbstinszenierung, einen solchen Freiheitsgrad gegenüber seinem Material erreicht. Das wirkt dann wie Stärke.) Noch, wenn eine Frau ihm Leiden verursacht, stehe sie "dem Schriftsteller nur Modell". Sie "sitzt" ihm sozusagen für ein bestimmtes Gefühl, das er studieren will. Aus diesem Verhältnis zur Wirklichkeit (hat man es sich frühzeitig antrainiert, oder war man immer schon dazu verurteilt?) erwächst natürlich eine tiefe Trauer, weil man seine intensivste Beziehung zu den Dingen und Menschen erst hat, wenn man sie zu Spielzeugen oder Modellen macht. (Und das betrifft nicht nur die Künstler, Proust lehrt ja, daß Entfremdung eine allgemeine menschliche Eigenschaft ist, nur daß sie vom Autor radikal offengelegt wird, während die meisten Menschen andere Wege des Trosts wählen. Dem unmittelbaren Empfinden und dem Rausch laufen wir ja alle hinterher.)

Die Liebe gibt einem zeitweise das Gefühl, für einen Menschen aus diesem Mechanismus ausscheren zu wollen, deshalb ist sie eine menschliche, aber auch eine künstlerische Krise. Vielleicht infiziert man sich mit ihr ja auch gerade im Moment einer künstlerischen Krise. Jemand wie Goethe war in der Lage (oder dazu verurteilt), sich bis ins hohe Alter immer wieder in der für seine Existenz gefährlichsten Weise zu verlieben. Andererseits hat er krank im Bett gelegen, während seine Frau Christiane ganz allein einen tagelangen, qualvollen Tod starb. Statt sie zu besuchen, hat er in dieser Zeit Tagebuch über ihr Sterben und seine Stimmung geführt. Hinterher hat er ihr ein Gedicht geschrieben: "Du versuchst, o Sonne, vergebens/ Durch die düsteren Wolken zu scheinen!/ Der ganze Gewinn meines Lebens/ Ist, ihren Verlust zu beweinen." Ist das nun rührend oder erbärmlich?

Es kommt dann zu diesen beunruhigenden Momenten, da man bei der Arbeit, also wenn man einen erlittenen Kummer detailliert nachzuzeichnen versucht, "mit dem Mut des Arztes, der immer wieder an sich selbst die gefährliche Spritze erprobt", um das Allgemeingültige daran herauszuarbeiten, und sich durch diese "Gymnastik" dagegen "immun" zu machen, erleben muß, "wie das geliebte Wesen sich in einer umfassenderen Wirklichkeit verliert, daß man es über der Arbeit schließlich für Augenblicke vergißt..." Man kann vielleicht nur mit einem Menschen leben, der auf solch eine Tätigkeit nicht eifersüchtig ist, aber welches Maß an Souveränität gehört dazu?

Das Glück hat überhaupt nur einen nützlichen Zweck, "das Unglück möglich zu machen", dessen Grausamkeit einen sonst "fruchtlos treffen" würde. Proust hält zur Eile an, denn angeblich sind die Leiden flüchtig, und man müsse sich schnell an die Arbeit machen, um seinen Vorteil daraus zu ziehen. Denn es ist nur das Leiden, das "das Unkraut der Gewohnheit, der Skepsis, des Leichtsinns, der Gleichgültigkeit ausrottet." Aber diese angehäuften Leidensepisoden sind am Ende auch für "jene furchtbar verwüsteten Gesichter wie die des alten Rembrandt, des alten Beethoven" verantwortlich.

Sicher hätte Marcel sich mehr mit dem geistvollen Elstir befassen können, aber stattdessen hat er Albertine in die Wohnung gelassen, die sein Leben und sein Zimmer durcheinander gebracht hat. Weil er natürlich genau gespürt hat, daß er als Autor ein Schicksal brauchte. "Dadurch, daß ich meine Zeit mit ihr vergeudete und sie mir Kummer bereitete, war mir Albertine vielleicht selbst in literarischer Hinsicht nützlicher gewesen als ein Sekretär, der meine Papiere in Ordnung gehalten hätte."

Eigentlich müßte man diese Seiten vor den Frauen verschlossen halten, wie kann sich jemals wieder eine Frau in einen Schriftsteller verlieben, wenn sie das gelesen hat?

Und wie sein Leben ein einziger Zufall war, an dessen Anfang Swann stand! Swann führte zu Balbec, dort kam Albertine, die Großmutter traf dort Madame de Villeparisis wieder, das führte ihn zu den Guermantes, Saint-Loup und Charlus. Und jetzt steht er in der Bibliothek des Prinzen von Guermantes und ihn überfällt ganz plötzlich die Idee seines zu schreibenden Werks. Und ein wenig bedauert er sofort die ganzen anderen Bilder, mit denen er, weil er nunmal dieses Leben geführt hat, sein Gedächtnis nicht füllen konnte

Unklares Inventar: - Artesischer Brunnen.

  • Cythere.
  • Roques.
  • Sarrail.

Verlorene Praxis: - Ein rein körperlich lebender Mensch sein und beglückt über Sport, vergossenen Schweiß und Bad.

  • Zusehen müssen, wie die Schönheit ihren Sitz auf die mützengekrönte Stirn eines Omnibusschaffners verlegt.

Selbständig lebensfähige Sentenz: - "Der Geist kennt keine ausweglosen Lebenssituationen."

  • "In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, ein Leser nur seiner selbst. Das Werk des Schriftstellers ist dabei lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können."

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