Schmidt liest Proust
Sonntag, 21. Januar 2007

Berlin - VII Die wiedergefundene Zeit - Seite 307-327

Ach, wie schön ist es manchmal, kein Niemand mehr zu sein, der nicht erklären kann, was er mal machen will, obwohl er sich schon als etwas besonderes fühlt. Damals hat man auf die Frage, was man mache, trotzig: "Nichts!" geantwortet, schließlich wäre jede konkrete Antwort eine Einengung der Ansprüche gewesen, überhaupt war es verpönt, Menschen danach zu beurteilen, was sie machten, es ging doch darum, was sie waren. Trotzdem gebe ich nur in Ausnahmefällen zu, daß ich Autor bin, weil das für viele einen erbärmlichen Beigeschmack hat. Das schönste am Beruf ist aber, wenn sich einem Türen für Projekte öffnen, weil man sozusagen seine Qualifikation schon nachgewiesen hat. Heute war ich bei Mawil, um mit ihm eine meiner Kurzgeschichten als Comic-Szenario umzuschreiben, er will sie zeichnen. Sie heißt "Und einen Fetzer", es geht darin um die Ferienlagerzeit. So ein Comic-Strip nach einem Text von mir wäre für mich ein Traum, fast wie ein erster eigener Film. Wie man sich bei der Arbeit freut, wenn man genau den Tonfall eines Satzes findet, wie er in einer bestimmten Situation damals gefallen wäre! Zum Beispiel beim Tischtennis, wenn ein Mädchen sagt: "Paß uff, der schmettert!" Es gibt beim Schreiben immer nur genau eine richtige Lösung und seltsamerweise kann man sie sich nicht ausdenken.

Mawil wohnt um die Ecke, in einer Straße, in der ich im September/Oktober '89 gewohnt habe. Meine Wohnung hatte damals nur eine Küche und ein Zimmer, aber mir erscheint das heute immer noch ideal. Ich hatte alles vollgebaut mit dadaistischen Müll-Objekten, weil man seine Besucher mit Kreativität beeindrucken wollte. Inzwischen weiß ich, wie schwer ich mich von Sachen trenne und verzichte lieber gleich darauf, sie mir hinzustellen. Bei anderen gefällt mir die Überladenheit aber, es ist schön, wenn die Wohnung zusammengebastelt wirkt und hinter jedem Detail ein Gedanke steckt. Bei Mawil sieht es aus, wie in einem Kinderzimmer für Erwachsene, man hat in solchen Wohnungen gleich das Gefühl, in Sicherheit zu sein. Überall hängt irgendetwas Spannendes, man bräuchte lange, um überhaupt alles zu überblicken, dabei sind es kaum 35 qm. Der Monsator-Durchlauferhitzer und die Gamat-Gasheizung sind noch aus der DDR, der Spülschrank hat diese beiden schwarzen, konischen, eng zusammenstehenden Knöpfe zum Öffnen, und er quietscht beim Öffnen, das Geräusch hatte ich schon vergessen, weil mein IKEA-Schrank Schiebetüren hat. Das Plakat einer tschechischen Band "Jiri Brabec & his Country Beat", genau der Typ Ost-Musiker, die mit ihren Schnurrbärten für uns schon damals so uralt aussahen, daß man sich vor ihrer Musik gruselte. Inzwischen ist man vielleicht sogar schon älter als sie. Ein Plakat "Oznaki turysticzno krajoznawcze". Ein mit Lichterkette beleuchteter Plattenspielerschrein mit Mini-Diskokugel. Für die Stifte ein kleines Papp-Tönnchen, die Verpackung von "Luckanum-Einfaßband – selbstklebend gummiert" vom VEB Isofol Leipzig/Lucka.

Eigenartig, gerade gestern war ich auf der Party einer Ex-Freundin, auch im Prenzlauer Berg, und diese WG-Wohnung, in der sich fast nur ehemalige Westdeutsche aufhielten, gehorchte genau der entgegengesetzten Ästhetik, es gab nichts Überflüssiges, die Wände waren weiß und man wäre beim Putzen gut in die Ecken gekommen, weil nichts herumstand. Eine längliche DDR-Plattenschrank-Kommode paßte gut zu den sparsam verteilten Design-Möbeln. Ich wüßte nicht, wie ich lieber wohnen wollte, in der Leere oder in der Fülle? Es wäre sowieso schöner, wenn man Swinger-Wohnen betreiben würde, also immer für eine Weile mit anderen die Wohnungen tauschte. In fremden Wohnungen stört es einen nicht, wenn alles mit Erinnerungsstücke überladen ist, es sind ja nicht die eigenen, man muß bei nichts entscheiden, ob es weg sollte. Vielleicht könnte man auf dieselbe Art auch zeitweise den Beruf tauschen, wenn es nicht der eigene ist, kann man vielleicht eher damit leben. Oder sogar den Körper?

Seite 307-327 Marcel ist weiter auf dieser für ihn so gespenstischen Matinée beim Prinzen von Guermantes, wo den Anwesenden "das Alter Sohlen aus Blei angeheftet hatte." Sie stehen vor ihm, wie Bildnisse auf einer Porträtausstellung, zu denen man sagt: "Nein, nicht dieses hier, da sind Sie weniger gut getroffen, das sind Sie ja gar nicht."

Manche Herren scheinen nach einem Schlaganfall zu hinken, als stünden sie tatsächlich, wie man sagt, mit einem Fuß im Grab, und "...während das ihre ebenfalls schon halb geöffnet vor ihnen lag, schienen gewisse halbgelähmte Frauen nicht mehr völlig ihr bereits am Grabstein hängengebliebenes Kleid losmachen zu können; sie vermochten sich nicht mehr gerade aufzurichten."

Er sieht Männer, und "...ihre beständig bebenden Lippen schienen Sterbegebete zu murmeln..." Und Frauen, bei denen man sich fragte, wie das Leben diese Veränderungen an lebendigem Fleisch hatte vornehmen können? Um eine "leichtfüßige Blondine" durch "einen beleibten Dragoner" zu ersetzen, "hatte es größere Zerstörungen und Neubauten vornehmen müssen, als wenn man einen schlanken Kirchturm durch eine Kuppel ersetzt." Es ist einfach nicht zu begreifen, wie jemand so alt geworden sein kann.

Immerhin gibt es für manche die Chance einer zweiten Schönheit, so wie man auch spät ein neues Handwerk lernen könne, oder "Boden, der zum Weinbau nicht mehr taugt, Rüben abgewinnt." Aber sie eigne sich nicht für zu häßliche oder zu schöne Frauen. Bei zu schönen Frauen ist das Gesicht wie eine Marmorskulptur ein für allemal festgelegt und kann sich nur abnutzen. Zu häßliche Frauen aber "waren Monstren und schienen sich nicht stärker 'verändert' zu haben, als es Walfische tun."

Heldenhaft und ohne zu ermatten kämpfen alle diese Frauen gegen das Alter "und boten der Schönheit, die sich von ihnen entfernte wie ein Sonnenuntergang, dessen letzte Strahlen sie leidenschaftlich noch bewahren wollten, den Spiegel ihres Antlitzes dar."

Unklares Inventar: - Sekondeleutnant.

  • Fregoli, ein Mime.
  • Panamaschieber.

Verlorene Praxis: - Eine reiche Heirat machen, dank der man Kampf oder Ostentation nicht mehr nötig hat.

  • Dadurch, daß man allmählich andere Werte als diejenigen erwirbt, an die man in einer frivolen Jugend ausschließlich geglaubt hat, seinen Charakter aus seiner Verkrampfung lösen und seine Vorzüge wirksam herauskehren können.
  • Gleich einer schwerfälligen Schwimmerin, die das Ufer nur noch in großer Entfernung erkennt mit Mühen die Wellen der Zeit zerteilen, die über einen hinwegfluten.
  • Als Besucher einer Elektrizitätsausstellung nicht glauben können, daß der Phonograph sogar die unmittelbar aufgenommene Stimme einer Person unverändert wiedergibt.
  • Sich aus Kummer über den Tod des Vaters ein Jahr in einem Sanatorium aufhalten und anschließend versuchen, den Zweispänner dieses überlegenen Mannes einem historischen Museum zum Geschenk zu machen.
  • Einem Herrn, um ihn zu demütigen, als Sekundanten seinen Hausmeister oder seinen Butler schicken.

Katalog kommunikativer Knackpunkte: - Beim Zurückgrüßen nicht hindern können, daß sich das geistige Bemühen auf dem Gesicht zeigt, mit dem man zwischen drei oder vier Personen zu entscheiden versucht, wessen Gruß man da erwidert.

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