Schmidt liest Proust
Mittwoch, 3. Januar 2007

Berlin - VI Die Entflohene - Seite 297-307

Die Erinnerung kommt unwillkürlich und stromstoßartig, und wäre man nicht andernfalls tot? Oder zumindest dieser Teil von einem, der sich in eine Gegend verirrt hatte, wo er nur verlieren konnte. Wieviele Dinge man in der kurzen Zeit gestreift hatte, zeigt sich, wenn es vorbei ist, und einen alles mögliche an sie erinnert.

Pilates-Werbung, weil wir mal drüber gesprochen haben, ob die Methode funktioniert. Tanzstudios, Plakate für Tanztheater, der Berlin-Kultur-Teil der Taz, weil dort dreimal die Woche Tanztheater besprochen wird, Filme, in denen getanzt wird, generell Frauen mit mehr als 90% gespreizten Füßen. "Silence of sleep", weil sie damals nicht mitgekommen ist und ich den Film so gerne mit ihr gesehen hätte. Dönerbuden und Ayran, weil sie eine Woche in der Türkei war und keine Milchprodukte ißt. Wollsachen, weil sie sich einen Beutel für ihren I-Pod gestrickt hat. Thomas Doll, weil sie seine blauen Augen schön fand. Die neue Moschee in Pankow, weil auf der Orientierungskarte in der Zeitung der Name ihrer alten Straße auftauchte, die ich mir mit ihr gerne angesehen hätte. Vegetarisches Essen, weil sie kein Fleisch aß. Porsches, weil sie ein Porsche-Schlüsselband hatte. Der Wedding, weil sie der erste Mensch war, den ich dort kannte. Café Balzac, weil wir da das einzige mal zusammen Kaffee getrunken haben, als noch Hoffnung war, allerdings nur für mich. Dieser Fußballreporter, weil sie den kannte und sich einmal lieber mit ihm als mit mir treffen wollte. Keksdosen, weil sie so schön davon erzählt hat, wie sie die als Kind nicht aufbekommen hat. "Keane", weil ich die Band nicht kannte und nicht wußte, daß sie auf dem Konzert war. Avocados, weil sie mir beigebracht hat, daß die neben Äpfeln schneller reifen. Nußknacker, weil sie in dem Ballett mal eine Maus war. Baywatch, weil sie einmal mit David Hasselhoff auf der Bühne gestanden hat. Campari, weil wir den im Sommer auf dem Balkon getrunken haben. Eigentlich jede Frau auf der Straße, weil sie nicht sie ist.

Seite 297-307 Außerdem kommt, was man schon geahnt hatte: Albertine ist keineswegs lebendig. Die Depesche war in Wirklichkeit von Gilberte gewesen, die darin ihre Vermählung mit Saint-Loup angekündigt hat. Ihre Frauenschrift mit Schwänzen, Arabesken und verirrten I-Punkten war falsch interpretiert worden, und schon war aus "Gilberte" "Albertine" geworden. Außerdem liest man ja gerne, was man lesen will. Ich erinnere mich an eine Nacht, in der ich eine SMS erhalten zu haben meinte, sie aber wie ein Weihnachtspaket nicht gleich öffnen wollte und wieder schlafen ging. Am nächsten Morgen war der kleine, stilisierte Briefumschlag auf dem Display, den ich nachts gesehen zu haben glaubte, verschwunden. Ich war unendlich verzweifelt.

Nun wird also Gilberte, die reiche Tochter eines Juden und einer Kokotte, mit Saint-Loup eine der adelsmäßig angesehensten Partien heirateen, in deren Stammbaum sich französische Könige tummeln, das ist Stoff genug für lange Erörterungen. Andererseits heiratet die Tochter Jupiens, die inzwischen aus Barmherzigkeit von Charlus adoptiert worden ist, einen Cambremer. Marcels Mutter versucht "sich gleichzeitig so gut wie möglich vorzustellen, was meine Großmutter beim Erfahren dieser Nachrichten empfunden hätte, und zu gleicher Zeit für unmöglich zu halten, daß wir es mit unseren um so viel weniger erhabenen Geistern je erraten könnten."

Marcel überfällt bei diesen Nachrichten eine abgrundtiefe Traurigkeit "trübe wie ein Umzugstag". Allerdings ist das Glück der anderen relativ, denn von Saint-Loup heißt es plötzlich aus dem Munde einer Puffmutter, er sei auch "so", was ihn nicht daran hindern würde ein guter Ehemann zu sein. Und die Nichte Jupiens wird schon am Tag der kirchlichen Trauung von einem gastrischen Fieber befallen, schleppt sich mühsam zum Traualtar und stirbt wenige Wochen später.

Verlorene Praxis: - Unaufhörlich mit jungen Leuten im Freudenhaus Champagner trinken, um hinlänglich fettleibig zu werden, damit man, falls Krieg ausbricht, nicht eingezogen wird.

  • Sich ständig in Marienbad aufhalten, um sein Gesicht seiner schlanken Taille zum Opfer zu bringen.
  • Das gelenkige Äußere eines Kavallerieoffiziers erlangen, um beim Aufsuchen gewisser Häuser unbemerkt hineinzugleiten.
  • Zum Diner mit Federn auf dem Kopf erscheinen.
  • Sich Dank dem großen Vermögen seiner Frau alles leisten können, was man zu seinem Behagen braucht.

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