Schmidt liest Proust
Dienstag, 23. Januar 2007

Berlin - VII Die wiedergefundene Zeit - Seite 347-367

Meine Eltern haben heute ihre Skatrunde zu Besuch, mein Vater hat Graupensuppe gekocht und meine Mutter Nudelsalat gemacht. Ich wäre so gerne dabei, aber seit ich mit 18 ausgezogen bin, habe ich im Grunde kein Zuhause mehr. Meine erste wirkliche Freundin hat noch im Haus ihrer Eltern gewohnt, ich bin damals praktisch dort mit eingezogen und habe mir nichts dabei gedacht, es war so angenehm in dieser Familie, sie hatten viel mehr Platz, als wir je gehabt hatten, und es gab sogar einen Garten, wo man im Sommer mit dem Fußball jonglieren üben konnte. Und auf dem Gästeklo lag immer ein gutes Buch. Tagelang bin ich nicht mehr zu mir gefahren, weil ich allein in meiner Wohnung die Angst vor der Zukunft nicht ertrug oder keine Kohlen hatte. Man dachte doch, man müßte seinem Alter entsprechend exzessiv leben, aber andererseits mußte man diszipliniert sein, um im neuen System nicht unter die Räder zu kommen. Ich war natürlich auch viel zu faul für wirkliche Arbeit, Zeit war doch ein Menschenrecht. Man hatte Ambitionen, aber das Farbband der alten Vorkriegsschreibmaschine vom Opa klemmte immer, und selbst weißes Papier würde bald nicht mehr zu bezahlen sein. Außerdem wußte man gar nicht, was man schreiben sollte und schlief immer mit dem Kopf auf der Tischplatte ein, während aus den anderen Wohnungen auf dem Hinterhof laute Partymusik kam. Also zur Sicherheit wenigstens das Studium beenden, auch wenn es das falsche war? Nur daß man es immer so eilig hatte, die ganzen Bücher zu lesen, die nichts mit den Seminarthemen zu tun hatten. Außerdem konnte man nicht ewig nur von fremden Erfahrungen lesen, man mußte doch durch die Welt reisen und eigene sammeln! Andererseits aber natürlich auch wieder aufs Dorf, weil Bodenständigkeit am Ende vielleicht mehr wert war als oberflächliche Erfahrungen mit der Fremde. Und überall, wo man hinkam, dachte man: könnte man hier leben? Wie müßte die perfekte Wohnung aussehen? Oder sollte man konsequent sein und sich als Nomade verstehen, mit einem Koffer und kahlen Wänden, dann wäre man unkorrumpierbar? Aber andererseits wäre es schön, an einem Ort zu leben, der solch eine Ausstrahlung hatte, daß er die Texte praktisch selbst schrieb. Aber man hatte ja gar kein Geld! Nur als Reserve dieses längliche, mit Pfennigen gefüllte Glas im Flur.

Weil wir Angst hatten, das alles alleine zu ertragen, fiel es uns so schwer, uns zu trennen, obwohl wir uns so viel stritten. Ich träumte von anderen Mädchen und sie ging fremd, so war die Arbeitsteilung. Das hat eine langjährige Phobie begründet, in Beziehungen den richtigen Moment zu verpassen und, weil man aus Angst vor Endgültigkeiten zu lange gewartet hat, länger als nötig zusammenzubleiben. Aber man wußte ja nicht, ob es sich nicht später noch auszahlen könnte, mit 80 ist es doch schön, denselben Menschen 60 Jahre an seiner Seite gehabt zu haben. Aber woran soll man mit 20 erkennen, welcher Mensch das sein könnte? Ist dafür ein Instinkt zuständig, den wir zwar haben, der sich aber so selten zeigt, wie der Halleysche Komet? Wie soll man ihn dann erkennen? Vielleicht hat man ihn ja nicht bemerkt und immer mit normalem Seitenstechen verwechselt?

Ich weiß nur eins, ich will mit 70 auch Graupensuppe kochen für meine Frau und unsere Skatrunde.

Seite 347-367 Und, wie es jetzt Neulinge gibt, die in der Gesellschaft auftauchen und die Alten mit ihrer Unkenntnis der Geschichte dieser Kreise schockieren, so ist auch Marcel als junger Mann einmal in den Salons aufgetaucht und wußte von nichts.

Im Alter vergißt man aber sowieso immer mehr und wird dadurch fast milde, auch wenn man immer bitter gewesen war. Man erinnert sich nicht mehr genau, ob man mit jemandem seit zehn Jahren nicht mehr spricht, oder ob man sich das nur einbildet. Und der Tod wird "quasi gesellschaftsfähig" und zu einem Zwischenfall "der eine Person mehr oder weniger deutlich charakterisierte". Man sagt dann "der Soundso ist ja tot", wie man sagen würde: "Er verbringt den Winter im Süden." Es ist überhaupt bei Menschen, die man länger aus den Augen verloren hat, schwer zu entscheiden, ob es sich um "Krankheit, Abwesenheit, Zurückgezogenheit auf dem Lande oder Tod" handelt. Der Tod der anderen ist für viele das einzige Mittel, "auf angenehme Weise ein Bewußtsein ihres eigenen Lebens zu erhalten."

Grimmige Pointe unserer Existenz, Marcel erkennt "eine dicke Dame" nicht gleich, die ihn begrüßt und legt deshalb übertriebene Liebenswürdigkeit in sein Lächeln, während er auf ihrem Gesicht nach ihrem möglichen Namen forscht. Dabei ist es Gilberte, seine Jugendliebe!

Verstorben: - Marquise d'Arpajon.

  • Gräfin d'Arpajon.

Unklares Inventar: - Ein Aufbruch "à l'anglaise".

  • Mounet-Sully, Coquelin, Henry Bidou, General Townsend, General Goringer.
  • Bellonen.
  • Der Graben der Madame de Sévigné.

Verlorene Praxis: - Aus den in der Gesellschaft vollzogenen Wandlungen Wahrheiten entnehmen, die würdig sind, einen Teil seines Werkes zu untermauern.

  • Seine vordem säuerliche Natur mit dem Zucker der Güte versetzen.
  • Im Fluge eine Bemerkung erhaschen, die der andere gemacht hat, ohne daran zu denken.
  • Sich, sobald eine Person der eigenen Altersklasse abgelebt ist, vorkommen, als habe man bei einem Wettbewerb über einen seiner beachtlichsten Konkurrenten den Sieg davongetragen.
  • Sich nicht mehr erinnern können, ob es früher einmal nach einer Gesellschaft, auf der Rückfahrt im Wagen, mit jemandem zu einem Zärtlichkeitsaustausch gekommen war oder nicht.
  • Seitdem man nur noch für geistige Dinge lebt, gern sein Wissen zur Schau stellen.

Katalog kommunikativer Knackpunkte: - Beim vorzeitigen Aufbrechen aus einem Musikstück "die mimische Verzweiflung über eine Trennung zur Schau" tragen, die nicht endgültig sein wird.

Selbständig lebensfähige Sentenz: - "...denn jeder Sterbefall bedeutet für die anderen eine Vereinfachung ihrer Existenz, er nimmt einem alle Skrupel wegen des Erzeigens von Dankbarkeit ab und hebt den Zwang zum Besuchemachen auf."

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