Schmidt liest Proust
Sonntag, 14. Januar 2007

Berlin - VII Die wiedergefundene Zeit - Seite 166-187

Noch im Bett im Kopf die nächste Woche durchgehen, den Zeitplan nach Lücken absuchen, undichte Stellen im Deich des Verdrängens, den man um sein Gemüt errichtet, und durch die wieder Erinnerungen hereinbrechen könnten. Die beste Droge ist immer noch Arbeit, jedenfalls in Momenten, wenn man, wie Goethe - der von jüngeren Generationen vielleicht unterschätzteste Autor-, sagen kann: "Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt/ Gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide."

Aber ich denke nicht, daß Menschen, nur weil sie nicht schreiben, stumm bleiben. Viele Bauwerke, die in den letzten Jahren in Berlin errichtet wurden, kommen mir vor wie der Hilfeschrei eines todunglücklichen Architekten. Da hat jemand seinen ganzen Kummer und Weltekel in seine Entwürfe gelegt. Und vielleicht kommt deshalb auch manchmal die Bahn zu spät, oder man wird auf einem Amt schlecht behandelt. Alles Liebeskummer. Nur daß, was den einen unsterblich macht, den anderen zur Plage für den Kunden werden läßt.

Ich bin so dankbar, daß mir manchmal ein Satz gelingt, man wird ganz demütig. Manche Frau, mit der ich zu tun hatte, nahm es persönlich, wenn ich die Arbeit (mit 18 haben wir noch ständig "das Werk" gesagt) kategorisch über alles stellte. Wie kann man von mir verlangen, dem untreu zu werden, was so oft die einzige Zuflucht war, das einzige, was einem wirklich treu war? Und ist es nicht schön, mit jemandem zu leben, der etwas hat, was er gerne tut? Ich versuche z.B. gerade über einen Kosmonauten zu schreiben, das hätte ich mir nie träumen lassen. Je intensiver ich an ihn denke, umso besser geht es mir.

Ich bin sicher noch nicht in der "Phase der Neuorientierung", die "Wutphase" überspringe ich sowieso. Aber es kommt vor, daß man jetzt schon ungewollt die Seiten wechselt, und plötzlich einer Person gegenüber in der Position ist, die die Frau zu einem selbst eingenommen hat. Perspektivwechsel haben mich immer gereizt. Das Kind in "Des Kaisers neue Kleider". Der Blick der Eingeborenen auf die Eroberer. Mork vom Ork. Die "Lettres persanes". Immer dasselbe Prinzip, man betrachtet sich mit den Augen des Fremden. Man kann sich auch einfach bücken und von oben durch die Beine gucken. Oder man hat Besuch von außerhalb und geht mit ihm durchs Viertel, wo man ihm dann immer kleine Stupse geben muß, damit er die richtige Richtung einschlägt. Plötzlich ist die Gegend wieder spannend. Mir wird zwar regelmäßig mangelnde Empathie vorgeworfen, aber ich neige in Wirklichkeit krankhaft dazu, immer alles aus der Sicht des anderen zu sehen. Wenn man einfach durch alle Hindernisse durchrammelt, wie meine Tochter, erreicht man wahrscheinlich mehr.

Käme mir jetzt eine Frau ins Leben geflattert, die zu mir paßt, ich würde genauso zögern, wie die, die sich nicht für mich entscheiden wollte. Und plötzlich sieht man, wie das ist, immer angerufen zu werden und niemanden verletzen zu wollen. Ich habe allerdings auch immer meine Lehrer verstehen können, sogar meine Offiziere. Irgendwie haben doch alle ihre Motive zu sein, wie sie sind. Es wäre wirklich etwas neues, einmal genau zu wissen, was man eigentlich selber will.

Sie kommt genau dann wieder, wenn sie spürt, daß du dich endgültig von ihr freigemacht hast, hat man mir gesagt. Das klingt immer, als sei eine Leidenschaft für eine Frau ein Grippevirus, den man auskurieren kann. Dabei denke ich immer noch an meine Krankenschwester von vor 17 Jahren und sehe sie regelmäßig um die Ecke biegen, und dann ist sie es gar nicht. Das geht doch nie vorbei. Es wäre eine reizvolle Situation, wenn all die Mädchen, die man unbedingt wollte, einen einmal zufällig gleichzeitig besuchen kämen. Das Komische ist ja, daß sie sich gar nicht kennen. Dabei haben sie etwas sehr wichtiges gemeinsam.

Seite 166-187 Das von Jupien geleitete Hotel, in dem vor allem masochistisch veranlagte Aristokraten die Begegnung mit Lakaien, Chorknaben, Negerchauffeuren, Angehörigen jeglicher Waffengattungen, Alliierten jeglicher Nationalität suchen. Auch Kanadier sind beliebt, wegen ihres archaischen, kaum spürbaren Akzents, sowie Schotten, wegen der Röckchen. Ganz verirrte Greise fragen sogar nach Kriegskrüppeln.

Charlus weiß zwar genau, daß ihm nur etwas vorgespielt wird, aber bis zu einem gewissen Grad kann er sich der Illusion hingeben, er werde tatsächlich von Schwerverbrechern gezüchtigt. Nur wenn diese eigentlich arglosen Kerle bei der Verabschiedung zu ungeschickt sind beim Lügen, und man "die Absicht wie in Büchern von Verfassern, die im Apachenjargon schreiben wollen" bemerkt, bricht alles von einem Moment auf den anderen zusammen, und Charlus ist enttäuscht, brave Jungs vor sich zu haben, die ihr Honorar für die Schläge dem Bruder an der Front oder den Eltern schicken werden.

Die Gäste sind dabei keineswegs zwielichtig, sondern geistreiche, feinfühlige und liebenswürdige Männer verschiedenster Profession. Das Haus ist sozusagen ein Mittelpunkt des geistigen Lebens. Natürlich tobt unweit von Paris der Krieg, und ab und zu taucht ein deutsches Flugzeug über den Dächern auf und wirft Bomben. "Aber was machen Sirenen und deutsche Flugzeuge Leuten aus, die ihr Vergnügen suchen? Der gesellschaftliche und natürliche Rahmen, der unsere Liebeserlebnisse umgibt, beschäftigt uns beinahe gar nicht." Bauanleitung für zahllose Melodrame, in denen die Helden, noch wenn ihnen das Wasser bis zum Hals steht, die Zeit für einen Kuß finden, der sie ihre völlig aussichtslose Situation vergessen läßt. "Es ist nämlich falsch zu glauben, daß die Stufenleiter der Ängste derjenigen der Gefahren entspricht, durch die jene hervorgerufen werden. Man kann fürchten, nicht einzuschlafen, weit weniger Angst aber vor einem ernsthaften Duell verspüren, vor einer Ratte wiederum mehr als vor einem Löwen."

Bei Bombenangriffen begeben sich diese Pompejaner in die Katakomben, wo die völlige Dunkelheit den Lustgewinn noch steigert, weil man die Präliminarien der Annäherung über Blicke und Gespräche überspringen kann, um "unmittelbar in eine Phase der Zärtlichkeit einzutreten." Der Luftschutzkeller als Darkroom! Die archaische Welt des Krieges trifft auf die ebenso archaische Welt geheimer Riten der Lust unter dem "vulkanischen Grollen der Bomben".

Unklares Inventar: - Lupanar.

Verlorene Praxis: - Sich daran gehindert sehen, bei einer nur ironischen und äußerlichen Sicht der Dinge stehenzubleiben, weil sich einem stattdessen unaufhörlich eine Möglichkeit für schmerzliche Erfahrungen eröffnet.

  • Sich mit der Dunkelheit entschuldigen, wenn der Vorstoß der Hände und Lippen schlecht aufgenommen wurde.

Katalog kommunikativer Knackpunkte: - Jemandem so unendlich lange lächelnd in die Augen schauen, "wie einen früher die Photographen stillsitzen ließen, wenn das Licht nicht gut war."

Selbständig lebensfähige Sentenz: - "Nicht nur Kinder, sondern auch Dichter werden mit Schlägen erzogen."

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