Schmidt liest Proust
Samstag, 6. Januar 2007

Berlin - VII Die wiedergefundene Zeit - Seite 25-45

Heute denke ich, daß es vielleicht ein Fehler war, mich nie für Autos zu interessieren. Wenn es mir kein Glück gebracht hat, mich in der Sprache der Frauen zu üben, sollte ich vielleicht die Sprache der Automobile lernen und die Autobeilage der Berliner Zeitung lesen:

Roter Kombi, Dieselmotor, S-Type-Nachfolger, Modellprogramm, "Dabei stimmt der XK hoffnungsvoll", E-Klasse-Kontrahent, "Abschied von der klassischen Limousine", "Trend zum viertürigen Coupé", "in seiner flachen Kabine aber auch viel Platz bieten", "Kühlergrill, in Richtung Motorraum zurückversetzt", ein 420 PS starker 4,2-Liter-V8, serienmäßig 18-Zoll-Räder, tiefer gelegtes Sportfahrwerk, Kurvenlicht, Leichtmetallräder, Leder-Stoffpolsterung, 1,6-Liter-Turbo, "Peugeot hat die Baureihe 307 gestrafft", Ausstattungslinien, Einstiegsversion, Dreitürer, Allradantrieb, "eine 4x4-Version des 9-3 einführen", Modellportfolio, Klimaanlage, City-Klappe, Vario-Modul, Spurhalte-Assistent, Faltdachversion, Motorhaube aus gebürstetem Edelstahl, Zwölfzylinder-Benzin-Direkteinspritzer, "das legendäre Hubraummaß von sechsdreiviertel Litern", V12-Biturbo, Luftmassenmesser, Automatikgetriebe, fahrdynamische Eigenschaften, bevorzugte Flottenmodelle, Climatronic, Unfaller, Motormanagement, Einspritzmengen, Drehmoment, Abgasreinigungssystem Bluetec, Zwei-Liter-Common-Rail-Triebwerk, Stickoxid-Speicherkatalysator, Brennstoffzellenfahrzeug, Reibwert, nachlassender Grip, Offroad-Optik, Dachreling, Seitenschweller, Türtafeln, gefederte Schwingsessel, Command-System, Zierteile aus echtem Carbon, "ein wenig Riffelblech und ein Überrollbügel aus poliertem Edelstahl auf der Pritsche", Hubraum, "mit einem wilden Brüllen erwacht der Diesel zum Leben", Differenzialsperren, 7,5-Tonner, 12-Volt-Bordspannung, Beleuchtungsenergie, gestalterische Möglichkeiten in Heck- und Frontbereich durch LED-Technik, Einparkhilfe, Notlaufeigenschaften, Tempomat, Durchladesystem, Servopumpe, Klimakompressor, die Spannrolle des Zahnriemens, "mit dieser klebrigen Lösung werden dann die Riemenflanken bestrichen", Lichtmaschinenlager, Austausch des Aggregats, Benziner, Nachrüstmöglichkeit, B-Xenon-Licht, LM-Rad, DSTC, ZV+FB, BC, ABS, WFS, TC, eFH, ESP, AHK, WR, NSW.

Seite 25-45 Weil er Gilberte ihren Balzac nicht wegnehmen will, borgt er sich von ihr einen Band der Tagebücher der Brüder Goncourt, in dem er zum Einschlafen an seinem letzten Abend bei Gilberte lesen will. Über der Lektüre scheint ihm seine "fehlende Disposition zum Schriftstellerberuf" weniger bedauerlich. (Immerhin schiebt er ja auch ein brillantes, zehnseitiges Goncourt-Pastiche ein, genau den Text, den er noch gelesen habe, bis seine Augen zugefallen seien, und den man ohne eine Disposition zum Schriftstellerberuf wohl kaum verfassen könnte.)

In dem brillierenden Abschnitt singt vermeintlich einer der Goncourts das Hohelied des Salons der Madame Verdurin, der darin keineswegs mehr so lächerlich erscheint wie bei Proust, sondern als Gesamtkunstwerk aus Inneineinrichtung, Speisen, Gesprächen und Menschen. Madame Verdurin nennt ihren Mann einen Besessenen, der, statt sich an diesem Fest der Sinne zu erfreuen, "eher Lust auf eine Flasche Apfelwein bekommt, wie man ihn in der etwas gewöhnlichen Atmosphäre einer normannischen Bauernwirtschaft trinkt." Was Elstir betrifft, der früher oft Gast im Haus gewesen ist, reklamiert Madame Verdurin das Verdienst, ihm seine berühmten Motive erst schmackhaft gemacht zu haben. Er selbst habe keinen Blumenstrauß ordnen können.

Der Bericht der Goncourts ist überaus detailliert und zeugt von der Beobachtungsgabe, die Marcel sich immer abgesprochen hat. Er hat ja denselben Salon ausgiebig besucht und für belanglos gehalten. Was soll man von der "trügerischen Magie der Literatur" halten, wenn sie den Salon nun als etwas so erlesenes zeichnet? Spielt es eine Rolle, ob das Original ganz anders war?

Vielleicht sei seine Unfähigkeit zu sehen und zu hören ja doch nicht so umfassend. Was er könne und was ihn sofort interessiere sei "das gemeinsame Element zwischen einem Wesen und einem anderen." Nicht was gesagt wird, sondern die Art, wie es geäußert wird. Die psychologischen Gesetze im Liniensystem, das er zwischen den Gästen zeichnet. Außerdem ist er lediglich "unfähig, selber etwas zu sehen, wonach nicht durch meine Lektüre das Verlangen in mir wachgerufen wäre und wovon ich mir nicht im voraus eine Skizze angefertigt hätte." So ist es immer beim Reisen, man muß von den Orten schon geträumt haben, und auch der Tag gewinnt, wenn man gewohnt ist, darüber zu schreiben. Aber wie weit ist der Horizont der Dinge, die einen im Leben interessieren können? Kommen alle Interessen aus einem selbst und müssen sie mit der eigenen Herkunft in Beziehung stehen (mit anderen Worten: wird mich Asien jemals interessieren?) Wie bezeichnet man die Momente im Leben, in denen man sich aus seinem Kreis herausbewegt und zunächst nicht viel empfindet, aber die Grundlagen schafft, um später doch etwas zu empfinden, wenn man sich erinnert oder wiederkommt (die Gemütsarbeit, die ich leisten mußte, um mir Mannheim zu einem Erinnerungsort umzuschaffen.)

Man kann also schließen, daß man den Wert der Lektüre geringer veranschlagen muß, weil das Leben ganz anders aussieht, oder aber, daß der Wert des Lebens durch die Lektüre steigt, weil einem erst Bücher die Augen für seine Größe öffnen.

Marcel stellt sich auch das Problem, Menschen zu schildern, für die man mehr als ein paar merkwürdiger Anekdoten braucht, die einem aber nicht, wie bekannte Künstler, ihre Werke als Hilfsmittel an die Hand geben, sondern die diese Werke lediglich inspiriert haben. "Wenn ich ehemals schon begriffen hätte, daß nicht der geistreichste, der belesenste, der mit den besten Verbindungen ausgestattete Mensch einmal ein Bergotte wird [..] sondern derjenige, der sich selbst zum Spiegel zu machen und daraufhin sein Leben, wäre es selbst ganz mittelmäßig, zu reflektieren versteht..." (hoffnungsspendende Worte für uns minderbegabte Abkömmlinge normaler Herkunft, die immerhin akribisch reflektieren können, was sie sind) "...konnte man mit besserem Grund das gleiche von den Modellen des Künstlers sagen." Es geht also nicht darum, das Erlesene und Exotische zu porträtieren, sondern etwas verhältnismäßig bescheidenes, das gerade dadurch herausstechen könnte.

Unklares Inventar: - Bilder von Guardis.

  • Miramionen.
  • Frottis-Vignetten von Gabriel de Saint-Aubin.
  • Teller aus der Yung-chêng-Epoche mit kapuzinerfarbenen Tönungen am Rande.
  • "Sèvres-Teller mit der feinen Guilloche-Arbeit der weißen, goldliniierten Gitterung, die manchmal auf dem cremefarben ausgesparten Grund des hauchzarten Porzellans tändelnd das Relief eines goldenen Bandes zusammenhält."
  • Die Dubarry.
  • Ein außergewöhnlicher Léoville.
  • Eine Ch'ing-Hon-Platte.
  • Ein Duft à la Lawrence.
  • Eine Bronzeziselierung von Gouthières.
  • Nymphenburger Porzellan.

Verlorene Praxis: - Jemanden in Paris durch einen Nimbus der Verderbtheit blenden.

  • Eine wissende Miene annehmen, wenn in einem Gespräch die Rede auf Tobolsk kommt.
  • Als Schriftsteller im intimsten Leben einer Frau eine Rolle spielen.
  • Zornigen Unmut über die gegen einen gesetzte Verschwörung der Universität empfinden, wenn sie in Gestalt eines Professors ihren feindseligen Widerstand gewollten Schweigens sogar in das liebenswürdig gastliche Haus hineinträgt, in dem man als Autor gefeiert wird.
  • Als Liebhaber solcher Dinge bei einem deliziösen Mahl mit angenehm geschmeichelter Aufmerksamkeit in seinen Bildungen den künstlerischen Insinuationen eines Porzellanmalers willig lauschen.
  • Sich an gewisse Kalbsschnitzel von Jean d'Heurs erinnert fühlen.
  • Eine Althaea nicht von einer Kornrade unterscheiden können.
  • Auf dem Schlachtfeld jederzeit Lakritzpastillen in der Hand haben, um seine Leberschmerzen zu beschwichtigen.

Katalog kommunikativer Knackpunkte: - Hinter der Animiertheit seiner scheinbar angeregten Konversation vor den anderen eine völlige geistige Erstarrung verbergen.

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