Schmidt liest Proust |
Donnerstag, 4. Januar 2007
Berlin - VI Die Entflohene - Seite 317-337 (Schluß) jochenheißtschonwer, 04.01.07, 19:15
Morgens weckt sie mich, indem sie mir glucksend ihren Finger vor die Nase hält, den sie dem Geruch nach gerade im Po hatte. Aber im Grunde mache ich ja beim Schreiben auch nichts anderes, als den Lesern mein Innerstes zu präsentieren und genau wie sie erwarte ich, daß man sich darüber freut. Die Eltern lange nicht im Schlafanzug gesehen. Ist es ein schlechtes Zeichen, daß ich sie wieder so nötig habe? Soll man sie überreden, doch wieder nach Berlin zu ziehen? Sofort denke ich wehmütig an Mannheim, das ich als ihren Wohnort nie akzeptiert habe, und trotzdem, da man nun seit 15 Jahren regelmäßig dort war, ist es doch auch Teil des eigenen Lebens. Sie können aber nicht kommen, weil meine Mutter Angst vor dem holprigen Berliner Gehwegpflaster hat. Mutti: der Sohn von ihrer ältesten Cousine sei auch "so" und habe, um ihn zu besänftigen, seinem Geliebten, von dem er sich trennen wollte, sein Haus in Wuppertal geschenkt. Hing immer so an seiner Mutter, daß er ihr Grab selbst gestaltet und aufgehäufelt habe. Als sie dort zu Gast war, sei sie zum Frühstück mit Don Giovanni geweckt worden. Mir hatte er damals einen schönen Wollpullover mitbringen lassen. Wie es wohl wirkt, wenn man in Amerika sagt: "I like Beuys"? Dann sehen sie diese Serie über das dramatische Leben einer Porzellangestalterin, alle Szenen sind mit Musik unterlegt und ständig wird unglücklich geliebt. Ein Mädchen ist von zuhause abgehauen, weil sie Fotos gesehen hat, die beweisen, daß ihre Mutter etwas mit ihrem Freund hat. Sofort quält mich der Gedanke, als sei ich selbst betroffen. Ein Königsberg-Buch angesehen und mich an bessere Zeiten erinnert, die schönen Tage in Kaliningrad, Joggen um den Schloßteich, durch die Hafenanlagen streifen, vollgeräumte Balkons von Plattenbauten fotografieren, das Dom Sowjetow in der Abendsonne. Aber dort hatte ich auch schon angefangen, mich für L. zu interessieren, die mir später solchen Kummer bereitet hat. Vielleicht hat es mich so gereizt, daß sie so selbstgenügsam wirkte und keine Notiz von mir nahm. Hinterher sagte sie ja, ich hätte dort wie ein Eigenbrötler gewirkt, dabei war ich die ganze Zeit bestrebt gewesen, ihr über den Weg zu laufen. Im Schwarz-Sauer den guten Fensterplatz erwischt, aber kaum sitze ich, kommt eine 10köpfige Touristengruppe zum Frühstücken herein, und sie fragen mich, ob ich umziehen würde, damit sie die Tische zusammenrücken können. Diese Art Fragen, auf die man nicht Nein antworten darf, ohne als Sozialkrüppel dazustehen. Murrend wechsele ich mit meiner Zeitung den Platz, ich könnte ja auch überall zu zehnt anrücken, um sicher zu sein, meinen Lieblingsplatz zu bekommen. Zeitung: - Der Danziger Kant ist Streuobst des Jahres. In L. stand ganz hinten im Garten einer, besonders beliebt für Apfelkartoffeln. Tröstlicher Gedanke, noch einmal in einer Baumschule zu lernen, aber die Bar spielt "My hump", und ich muß sofort an das Video denken, und von da an sie, und dagegen verblaßt der Apfel.
Verdächtig, wenn mir die Zeitung interessant vorkommt, da sie ja objektiv gesehen immer gleich interessant ist. Es kann nur an mir liegen. Der Kellnerin mit viel Überwindung "Schönes Neues" gewünscht, und sie hat es sogar gehört. Das mache ich nächstes Jahr wieder, ich freu mich schon. An der Buchholzer vorbei, wo ich damals bei der Schwester gewohnt habe. Einmal mehrere Stunden zunehmend verzweifelt nach einem Schlüssel für den Dachboden gesucht, weil ich mir einbildete, in einer Sommernacht auf dem Dach sitzen zu müssen, um dort oben eine Eingebung für ein Gedicht zu empfangen. Sogar in den Nachbaraufgängen geklingelt und von dort versucht aufs Dach zu kommen. Schließlich lange nach Mitternacht müde ins Bett gefallen und das Gedicht nie geschrieben. Spontan zu H&M, inzwischen habe ich ja kaum noch andere Kleidungsstücke, vielleicht sollte ich mich ihnen als Werbeträger anbieten. In der Kabine wieder geschockt von meiner Frisur, nur nach langem Modellieren ist ein akzeptabler Zustand zu erreichen, der aber realistisch gesehen unter normalen Bedingungen, also Windstößen, Mützen, heftigen Kopfbewegungen, falschem Blickwinkel des Betrachters, nie vorliegt. Immerhin sehen alle Sachen gut aus, was aber daran liegen kann, daß die alten so schlecht aussahen. Leider ist die EC-Karte abgelaufen und ich muß noch einmal nach Hause, die neue holen, und zur Sparkasse, wo ich erfahre, daß sich die Geheimzahl gar nicht ändert. Dann mit meinen 3 Kilo Kleidung von H&M nach Hause, wobei ich den Gedanken nicht verdrängen kann, daß das nur wieder 3 Kilo mehr sind, die ich beim nächsten Umzug zu schleppen hätte. Anruf bei Judith Hermann, die per Mail für die "Weltchronik" absagen wollte, weil sie schreiben müsse und sie der Termin zu sehr ängstige. Meinen Anruf hätte sie gerne vermieden, weil ich sie mit meiner "Schwejkstimme" bestimmt überrede wolle, was ich dann ja auch versuche. Sie könne auf der Bühne alles machen, Musik vorspielen, die ihr in dem Monat gefallen hat, ein Paniktagebuch vorlesen, wir können im Selbstversuch ihre Beruhigungstabletten schlucken, ich kann ihre Texte vorlesen und sie meine, sie kann auch die ganze Zeit hinter der Bühne bleiben, und wir projizieren sie nur auf die Leinwand. Als redete ich auf eine abtrünnige Geliebt ein, und genau wie dabei spüre ich schon, daß es keine Hoffnung gibt. Sie verschiebt die Entscheidung auf den Abend. Hinterher fällt mir ein, daß ich ihr hätte sagen können, daß ich mich bei H&M neu eingekleidet habe. Das ist ja auch das Problem mit J., wenn ich ihr wiederbegegne, will ich die neuen Sachen anhaben, aber ich weiß nicht, wann und wo das sein wird, und ob sie bis dahin halten. Abends bei Helge Schneider, die Eltern hatten hier vor unserer Geburt 15 Jahre Konzerte vom BSO abonniert und noch Igor und David Oistrach gesehen. Hier sei auch die SED gegründet worden. Erinnere mich daran, wie fasziniert ich in der Oper immer vom Deckenleuchter war, mir immer vorgestellt, wie er runterfällt und wen es erwischt. Dann wieder daran gedacht, daß ich J. als Kind vielleicht mal im Nußknacker als Maus oder Spielzeugsoldat gesehen habe und Helge kann mich kaum trösten. In der Pause sehen die Haare in den Wandspiegeln wieder gut aus, was denn nun? Dafür hat die neue Cordhose ein Loch. Zu Hause ein Anruf von Judith Hermann auf dem AB, sie hat eine Münze geworfen und wir haben verloren. Wünscht uns viel Glück, bestimmt werde es auch ohne sie gut. Irgendwie klingt sie genauso wie J., die auch so einen einfühlsamen Ton hatte, als sie mir mein Todesurteil verkündete. Wollte mir Mut machen, ich würde auch ohne sie glücklich, bei der nächsten bestimmt, und man will es nicht hören. In diesem Jahr kein Glück damit, Frauen dieses Namens von irgendwas zu überzeugen. Die ganze "Weltchronik" wieder auf der Kippe, neuen Gast finden, Flyer und Plakate neu gestalten. Aber vor allem der Dämpfer für die Moral. In einem Internetforum wird ein Text von mir kommentiert, ich könne es ja doch, warum ich dann immer diese "ich lese jetzt was langweiliges"-Texte lesen würde, die dann auch langweilig seien. Am Morgen doch wieder bei J. angerufen und einen Rückfall bekommen. Es gibt also doch einen anderen, mit dem sie sich wohl fühlt, man hätte es wissen müssen. Daß man jedesmal denkt, es sei noch nie so schlimm gewesen. Vielleicht empfindet man es im Alter auch als schlimmer, weil sich nichts zu ändern scheint und nur immer weniger Zeit bleibt. Wenn ich 50 bin und körperlich auseinanderfalle, werde ich mich schon deshalb so unwohl fühlen, daß ich mich nichts mehr traue. Wie komme ich endlich aus der Verleugnungs-Phase heraus? Seite 317-337 (Schluß) Der junge Marquis de Cambremer ist übrigens auch "so". Langsam wäre es schon sinnvoll, mitzuschreiben, wenn einer nicht "so" ist. Mit Gilberte freundet Marcel sich wieder an, so ist es mit alten Freundschaften, die wie in der Politik ehemalige Minister "und auf dem Theater vergessene Stücke wieder vorgeholt werden. [..] Nach zehn Jahren existieren die Gründe, weshalb der eine zu einem allzu anspruchsvollen Despotismus neigte und der andere diesen nicht ertragen konnte, im Bewußtsein nicht mehr." Und auch an Gilberte wird bewiesen, daß Liebe das größte Hindernis auf der Suche nach Glück ist: "Was ihr immer unerträglich und unmöglich erschienen war, tat sie jetzt: ohne daß wir uns jemals über den Grund der Veränderung ausgesprochen hätten, war sie immer bereit, zu mir zu kommen, und hatte es niemals eilig, mich wieder zu verlassen; das kam daher, daß ein Hindernis seither verschwunden war, nämlich meine Liebe." Liebe J., ich hoffe, daß es uns dann noch Spaß macht, uns zu besuchen, und daß Marcel recht hat, und du dann öfter kommen und länger bleiben wirst. Im übrigen hält er sich inzwischen eine junge Person in seiner Wohnung, die er zum Schlafen in der Nähe braucht, wie andere "das Murmeln eines Sees." Es ist aber keine Liebe, sondern eher eine Kopie der Beziehung zu Albertine und dem Autor nur eine Fußnote wert. Zustände wie bei Dallas, denn Morel verführt, nachdem er Charlus ja abserviert hat, nunmehr Saint-Loup, der gerade Gilberte geheiratet hatte und auch "so" ist. Wie kann er nur, ein Mann wie Saint-Loup? Aber was soll man machen? "Wenn Leute zudem, deren Herz nicht unmittelbar im Spiel ist, über die Liebesverbindungen, die man vermeiden sollte, oder schlechte Ehen zu urteilen pflegen, als sei man frei selbst auszuwählen, was man zu lieben gedenkt, stellen sie die köstliche Zauberprojektion der Liebe nicht in Rechnung, die so völlig und so ausschließlich die Person umwebt, in die man sich verliebt, daß die 'Dummheit', die ein Mann begeht, wenn er eine Köchin oder die Geliebte seines besten Freundes heiratet, im allgemeinen die einzige poetische Handlung darstellt, die er im Laufe seines Lebens begeht." Wie lange Saint-Loup schon "so" sein könnte, wird nun ausgiebig erörtert. Jedenfalls gibt er viel Geld für Morel aus und kann, seit er weiß, daß er Männer begehrt, keine Freundschaft mehr zu Marcel empfinden. Marcel hat Mühe, seinen Tränen zu gebieten, wenn er an den Moment von Saint-Loups einem Liftboy zuliebe erfolgter Konversion denkt, der ihm in Balbec entgangen ist. Unklares Inventar: - Arnault.
Verlorene Praxis: - Als junger Leser, "der wenig auf dem laufenden ist", den Irrtum begehen zu glauben, daß der Baron und die Baronin Forcheville als Verwandte der Schwiegereltern des Marquis de Saint-Loup, das heißt von der Seite der Guermantes her auf der Traueranzeige von Mademoiselle d'Oloron vertreten seien.
Selbständig lebensfähige Sentenz: - "Was ist nur eigentlich an dieser Frau, daß ihre alten Liebhaber von ihr nicht loskommen können." ... Link |
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