Schmidt liest Proust |
Freitag, 10. November 2006
Berlin - IV Sodom und Gomorra - Seite 477-498 jochenheißtschonwer, 10.11.06, 23:16
In der Urania in Westberlin läuft ein bunter Revue-Nachmittag für Senioren. Der Saal ist auch am zehnten Tag hintereinander bis auf den letzten Platz ausverkauft. Nirgends wurde die Veranstaltung angekündigt, es läuft alles über die Bezirksämter, eine richtige Subkultur. Den Conférencier kennt man irgendwie von Fernsehabenden aus der Kindheit, aber sicher ist man nicht. Es sei schon die 248.Ausgabe dieser bunten Nachmittage. Das Publikum lacht ausgelassen, sobald es schlüpfrig wird. Es sind ja alle Individuen, aber als Rentner ist man doch in der Wahrnehmung ein Kollektivwesen, genau wie Jugendliche. Die Band lädt zu "einer kleinen musikalischen Reise um die Welt", und wenn man ehrlich ist, geht das sogar in die Beine. "Im Sommer scheint die Sonne und im Winter da schneit's, in der Schweiz, in der Schweiz, in der Schweiz." Alle anderen kennen den Text, ich fühle mich ausgeschlossen. Was werde ich hier in 50 Jahren mit meinen Altersgenossen singen? Oder auch: "Das ist Berlin, Berlin, Berlin... genau im Mittelpunkt der Welt, hat dich der Herrgott hingestellt"? Der Conférencier zitiert Jean Paul: "Erinnerungen sind das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann." Wer solche Sprüche klopft, hat es verdient, bis zum Ende aller Tage in Rentner-Variétés zitiert zu werden. Wohlwollendes Raunen, die gehbehinderte Oma neben mir, die unförmig, wie eine Qualle, in ihrem Sessel zerfließt, sagt: "Ditt stimmt." An welche Paradiese sie wohl dabei denkt? Chris Howland, der als "cleverer englishman" angekündigt wurde, singt: "Dann hau ich mit dem Hämmerchen mein Sparschwein kaputt." Wieder kenne ich den Text nicht. '48 sei er nach Deutschland gekommen, und habe hier eine phantastische Erfindung entdeckt, über die man überall in der Welt spreche. "Kennen sie nicht?" Jemand ruft: "Arbeit!", aber er meinte "Das deutsche Fräulein", von dem sein nächstes Lied handelt. Danach wieder Scherze: an den Euro könne man sich nicht gewöhnen, das Kleingeld sei so schwer, "das hängt so tief in meiner Hose. Nein, gnädige Frau, nicht, was sie meinen, das Geld." Der Saal tobt. Seite 477-498 Das dritte Kapitel des Bandes beginnt mit: "Ich fiel um vor Müdigkeit", ein Satz, mit dem jedes Kapitel beginnen sollte. Auch ein guter Titel für meine Memoiren. Manchmal fragt man sich, ob man sich zuviel zum nicht gesagten dazudenkt, oder ob man im Gegenteil zu harmlos ist. Der schielende Page erzählt von seiner Schwester "witzig ist sie auch", denn "Nie verläßt sie ein Hotel, ohne daß sie dem Zimmermädchen, das hinterher aufräumen muß, in einem Schrank oder einer Kommode ein duftendes Andenken hinterlassen hat." Eben will ich mich genüßlich über die Stelle hermachen und böswillig eine skatologische Anspielung herauslesen, aber dann geht es weiter: "Manchmal macht sie das sogar in einem Wagen, nachdem sie die Fahrt bezahlt hat; dann versteckt sie sich in einer Ecke und lacht sich tot, wenn der Kutscher tobt, weil er noch einmal von vorn anfangen muß, seine Kutsche zu waschen." Also was nun? Scheißt sie in Hotels und Autos? Diese Schwester hat einen reichen Liebhaber gefunden und würde es deshalb bedauern, wenn es keine Armen mehr gäbe: "'...damit ich, jetzt, wo ich reich bin, sie gelegentlich ansch... kann.'" Aufgeklärt im fortschrittlichen Sinn sind natürlich immer nur die Reichen, die anderen wollen nicht die Verhältnisse ändern, sondern nur selbst zu den Nutznießern gehören. Zurück von La Raspelière ist Marcel immer müde: "...ich trat dann in den Schlaf ein, der wie eine zweite Wohnung ist, über die wir verfügen und in die wir, nachdem wir die erste verlassen, uns für die Nacht begeben." Und mitten in den Überlegungen über die verschiedenen Arten des Erwachens und darüber, daß man kurz nach dem Erwachen zwar noch seinen Plotin kenne, aber noch nicht "das Vermögen, in kleinen Dingen zu handeln" wiedererlangt habe, heißt es: "...ich selber bürge dafür, ich, das seltsame Wesen, das, während es darauf wartet, daß der Tod es erlöst, bei geschlossenen Fensterläden, abgeschieden von der Welt, unbeweglich wie eine Eule lebt und wie jene einigermaßen klar nur im Dunkel sieht." Das ist ein schockierender Einschub, plötzlich spricht der Autor über die Umstände seiner Arbeit. Als würde ein neuer Monitor eingeschaltet, auf dem man den Autor arbeiten sieht, so, wie sich in "Rocky Horror Picture Show" dieser Mann zu Wort meldet, der die Tanzschritte erklärt. Alte Verwicklungen klären sich auf, Charlus war also beim letzten Aufenthalt in Balbec hinter dem Oberkellner Aimé hergewesen. Marcel zitiert einen Brief, den Aimé von Charlus erhalten und nicht verstanden hat. Darf man in seinen Romanen aus fremder Post zitieren? Jedenfalls bedient sich Charlus einer riskanten Liebesbrieftechnik, indem er gleich am Anfang verrät: "...daß mir beim ersten Mal, als ich Sie in Balbec bemerkte, Ihr Gesicht schlechthin unsympathisch war." Aber dann habe er eine Ähnlichkeit mit einem verstorbenen Freund an ihm bemerkt, und die "brachte sogar die unerträgliche Ausbildung ihrer Kinnpartie [..] zum Verschwinden..." Das soll man mal einer Frau sagen: Du erinnerst mich so sehr an eine andere, die mir sehr nah war, daß du mir gar nicht mehr so häßlich vorkommst, wie du bist. Aimé ist "ein wenig gealtert bereits durch den reichlichen Genuß von Champagner und der Stunde nicht mehr fern, da der Brunnen von Contrexéville notwendigerweise dessen Stelle werden einnehmen müssen." Contrex bekam mein Nenngroßvater immer aus dem Westen geschickt, und ich setzte damals große Hoffnungen darein, daß es ihn wieder verjüngen würde. Albertine malt wieder und sucht sich dafür eine abgelegene Kirche, zu der Marcel sie im Wagen begleitet. Aber dort angekommen fühlt er sich außerstande, sie mit ihr zusammen anzusehen. "Ich selbst empfand es [Vergnügen] angesichts von schönen Dingen nur, wenn ich allein war, oder mich verhielt, als ob ich es sei, das heißt schwieg." Aber hinterher schreibt man dann umso mehr. Verlorene Praxis: - Eine richtige Dame werden und Spanisch sprechen.
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