Schmidt liest Proust |
Donnerstag, 9. November 2006
Berlin - IV Sodom und Gomorra - Seite 456-477 jochenheißtschonwer, 09.11.06, 19:15
Sollte man am Geburtstag einfach aufs Dach steigen und nicht mehr mit dem Psychologen reden, bis das Urteil gegen einen aufgehoben wird? Wie immer kamen gleich morgens mit der Post die ersten Glückwünsche vom Sparkassenberater, aber auch web.de ließ sich nicht lumpen: „Als kleine Überraschung möchten wir Sie einladen, 3 Monate lang alle Vorteile des WEB.DE Club zu genießen: Premium E-Mail, exklusive Funktionen, Sicherheitspaket und vieles mehr.“ Aber wenn man auf „Überraschung auspacken“ klickt, muß man die Nutzungsbedingungen für das Geschenk akzeptieren, bevor man überhaupt weiß, wie es aussieht. Der traditionelle Anruf des Ahnungslosen kam diesmal von einem Redakteur. Er riet mir, kein Staatsbegräbnis anzustreben, sonst würde ich nie eines bekommen. Ich weiß nicht, wieso ich mit allen immer gleich auf dieses Thema zu sprechen komme. Neu war in diesem Jahr der eiskalte Regen, der mich auf dem Fahrrad erwischt hat. Dafür wusste ich bei Latein den PPP-Abl.Abs. von „Sole occidente“. Wenn ich mich statt in die Uni in die Vorschule setzen würde, hätte ich noch viel mehr solcher Erfolgserlebnisse. Leider driften irgendwann im Leben die Ansprüche, die an einen gestellt werden, und die Fähigkeiten, die man hat, auseinander, man müsste sich mal wieder an der richtigen Stelle eintakten. Meine Mutter hat gefragt, ob ich denn ein Grammophon hätte, sie meinte einen Plattenspieler. Ich hatte nämlich erzählt, daß ich mit ihrer Enkelin unsere alte „Der Wolf und die sieben Geißlein“-Platte gehört habe. Wir haben damals immer den Schluß hören wollen, wo die Geißlein singen: „Der Wolf ist tot, der Wolf ist tot, määääh!“ Was in der Erinnerung eine markanter Gesang ist, ist in Wirklichkeit ein leises Meckern und wird fast ausgeblendet, so täuscht man sich. Außerdem identifiziere ich mich inzwischen natürlich mit dem Wolf. Trotzdem ist es eine herausragende Platte, die heute zu Unrecht viel zu wenig beachtet wird. Der Sprecher ist Joseph Offenbach, der Vater aus „Die Unverbesserlichen“. Rätselhaft, dass man einen Text, wie ein Märchen, das einen ja wohl kaum ernsthaft berühren kann, so angenehm und spannend sprechen kann, ohne in Rhetorik zu verfallen. Vielleicht ist es auch nur die Stimme, die man gerne hört, und der Schauspieler muß gar nichts machen. Am Morgen einen Bekannten auf dem Fahrrad gesehen und nicht angesprochen. Er war mal ein Idol, weil er Malerei studierte, jetzt macht er Internet und ist damit viel zufriedener. Die Fähigkeit, Menschen zu idealisieren nimmt auch ab im Alter. Beim Zeitunglesen überlegt, ob ich meinen Geburtstag dazu nutzen sollte, mal die US-Bundesstaaten auswendig zu lernen, das wäre wenigstens was konkretes und in der Zeit machbar. Auf der Post stellte sich die Frage Pritt oder Uhu, warum können zwei identische Produkte auf demselben Markt überleben? Irgendwie war ich den ganzen Tag durch zittrig, weil heute morgen die Tochter geschrien hatte, weil ich den Turm nicht noch mal bauen wollte, den sie eingerissen hatte: „Ich kann das nicht!“ sagt sie, ohne es überhaupt probiert zu haben. „Sie will, dass du dich mit ihr beschäftigst“, erklärt man mir. Aber es wäre doch viel effektiver, lieb zu mir zu sein, als mich gleich morgens anzuschreien. Der nächsten Frau, die zu mir sagt: „Was rumpelt und pumpelt in meinem Bauch herum?“ schneide ich den Bauch auf und lege Wackersteine rein. Seite 456-477 Als Madame Cottard wieder aufwacht, streicht sie sich mit der Hand über die Stirn, mit "der Geschicklichkeit einer Frau, die ihr Haar wieder ordnet." Sie versucht, die Peinlichkeit, daß sie eingenickt ist, zu entschuldigen: "Ihr Lächeln aber wurde schnell traurig, denn der Professor, der wußte, daß seine Frau ihm zu gefallen suchte und zitterte, es möge ihr nicht gelingen, rief ihr soeben zu: 'Sieh dich nur im Spiegel an, du bist so rot, als littest du an einem Ausbruch von Akne, du siehst aus wie eine alte Bäuerin.'" Madame Verdurin verbucht das unter "schalkhafter Gutmütigkeit". Ein trauriges Bild, solche Eheleute, und irgendwie wurde einem davon ja schon immer die Lust am Zusammenleben verleidet. Was so alles in Familienwappen vorkommen kann: Wiederkreuze, Fasces, Wechselzinnen, Kleeblattschnitt, fußgespitzter Pfahl, Hermelin. Wie entledigt man sich der Verpflichtung, jemanden zu sich einzuladen? "'Bleiben Sie noch einige Zeit in dieser Gegend, Madame?' fragte Monsieur de Cambremer Madame Cottard, was als eine unbestimmte Absicht, sie einzuladen, gelten konnte, aber für den Augenblick eine präzisere Form der Verabredung überflüssig machte." Die Herren spielen Écarté, Charlus versucht, Morel, "da er es mit der Hand nicht konnte, mit Worten zu berühren, die ihn gleichsam abtasteten." Cottard macht fade Wortspiele. Madame Verdurin möchte Marcel vom Besuch bei den Cambremers in Féterne abhalten. Lungenentzündung und dauerhaften Rheumatismus würde er riskieren, und die Luft sei dort nicht gut für seine Erstickungsanfälle. Alles aus Angst, man könne sie versetzen. Deshalb rät sie auch Charlus ab, in Rivebelle zu essen. Von dem "Dreckzeug", das sie einem dort als "galette normande" vorsetzten, habe ein armes Mädchen eine Bauchfellentzündung bekommen und sei innerhalb von drei Tagen gestorben. Beim Abschied ist der norwegische Philosoph wie angekündigt spurlos verschwunden, vielleicht von einem "Aeroplan entführt", oder "auf übernatürliche Weise in den Himmel entrückt", oder er hatte wieder "einen Kolikanfall". Das alles berührt mich weniger, als daß Marcel sich eine Seite lang darüber ärgert, daß Madame de Cambremer d.J. Saint-Loup "Saint Loupp" ausspricht, mit hörbarem p am Ende. Unklares Inventar: - Siele. ... Link |
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