Schmidt liest Proust
Samstag, 4. November 2006

Berlin - IV Sodom und Gomorra - Seite 353-373

Warum muß ich, wenn ich "9" und "10" lese, immer noch kurz nachdenken, um welchen Monat es sich dabei handelt? Kann man jemanden lieben, der Loriot und die Sesamstraße nicht mag? Wieso kann ich mir den Unterschied zwischen "succubus" und "incubus" nicht merken? Warum steht fast immer ein Blutspendebus vor den Schönhauser-Allee-Arkaden, mit einem Stromkabel, das quer über den Fahrradweg führt und von einem Plastebalken geschützt wird, über den man jedes mal beinahe stürzt. Demnächst pieksen sie einen einfach ungefragt auf der Straße an und zapfen einem Blut ab, das wäre ja vielleicht sogar die elegantere Lösung. Warum gibt es bei Extra den Halumi zum Selberbraten nicht mehr, nachdem ich ihn zum ersten mal gekauft habe und er aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken war? Wie oft muß man sich sehen, um noch zusammen zu sein? Wo liegt der Rekord in dieser Disziplin? "Als erstes Paar weltweit haben Gregor und Peggy es geschafft, sich freiwillig 20 Jahre nicht zu sehen, und trotzdem noch zusammen zu sein." Sollte man ein Video von der eigenen Geburt besitzen? Lohnt es sich "De la grammatologie" zu lesen? Warum lerne ich immer nur eingefleischte Vegetarierinnen kennen? Wie kann ich verhindern, daß er an seine Hämorrhoiden denkt, während er mit mir spricht? Warum sind alle Gesellschaftsspiele von 6-99, und man wird von allem, was Spaß macht, ausgeschlossen, sobald man 100 ist? Kann man Celan heißen und clean sein? Warum muß ich an Aussichtspunkten immer pinkeln? Ist es nicht viel schlimmer, der erste Mohikaner zu sein? KANN MAN AUCH OHNE CAPS_LOCK_TASTE GLÜCKLICH SEIN? Soll ich heute noch aus dem Haus gehen und wird dann alles anders?

Seite 353-373 Cottard ist ein treuer Getreuer von Madame Verdurins "kleinem Kreis", er würde nur für eine sehr wichtige Konsultation auf den wöchentlichen Besuch verzichten: "...wobei die Wichtigkeit im übrigen mehr von der sozialen Stellung des Kranken als von der Schwere des Falles abhing. Denn obwohl ein guter Mensch, verzichtete Cottard auf die Annehmlichkeit des Mittwochs nicht zugunsten eines Arbeiters, der vom Schlag getroffen war, wohl aber wegen eines Ministers, der am Schnupfen litt."

Während einer einzigen Fahrt mit der Bahn ruft Cottard gleich zweimal "Sapristi" aus, einmal wegen der bemerkenswerten Höhe der von Madame Verdurin gemachten Erbschaft, und einmal, als er hört, daß Madame de Cambremer ebenfalls heute abend bei den Verdurins erwartet wird. "Sapristi" war eines der Wörter, die ich zuerst in "Tim und Struppi" gelesen habe, dem anderen großen Epos aus dem französischen Sprachraum. Andere Wörter und Konzepte, die ich von "Tim und Struppi" kenne: Saufaus, Fata Morgana, Yeti, Elmsfeuer, Boxeraufstand, Syndikat, Cahare-Gift, liquidieren, Guano, Tapir, Chloroform, Piranhas, Pipeline (damals noch wie ein weiblicher "Piepel" gesprochen) und Steward (damals noch wie "stehen" und "warten" gesprochen).

Ein Beispiel dieses emblematischen Erlebnisses der Moderne, wenn man einem Menschen begegnet, nicht mit ihm spricht, ihn nie wiedersieht, ihn aber dennoch nie vergessen wird: ein Mädchen mit "magnolienhaftem Teint", schwarzen Augen und "wundervollen Formen" steigt zu, öffnet das Fenster, raucht eine Zigarette und springt an einer der nächsten Stationen "gewandt vom Trittbrett". "Oft noch, wenn ich an sie denke, fühle ich mich von tollem Verlangen erfaßt", sagt Marcel/Proust, und man denkt an Heiner Müller "Quartett": "Die Parade der nackten Ärsche. Alle kann man ja nicht haben!" (aus dem Gedächtnis zitiert).

Mit ein bißchen Glück könnte das Mädchen mit den wundervollen Formen ja heute noch leben, aber natürlich sei sie schon bei der Niederschrift dieser Episode, zehn Jahre später, nicht mehr ganz so frisch gewesen (man muß also wohl schon noch weitere zehn Jahre warten und hoffen, ihrer Tochter zu begegnen.) Aber man muß sich ja nicht wiederbegegnen, man findet ja sowieso mit zunehmendem Alter in den Menschen Züge anderer Menschen wieder und fühlt sich ihnen deshalb manchmal auf irrationale Weise verbunden oder verfeindet. Tragischer als das Altern der anderen ist ja auch immer noch das eigene. Denn es kommt der Tag "der so unabsehbar und traurig wie eine Winternacht ist [..] da man weder diese junge Person noch eine andere sucht, ja, wo es einen sogar erschrecken würde, wenn man sie wiederfände. Denn man spürt, daß man nicht mehr über genügend Reize, um zu gefallen, noch über genügend Kraft, um sie zu lieben, verfügt." Dann sitzt man, wie Trintignant in "Drei Farben Rot", in seinem Haus und wartet auf den Tod. Woody Allen hat auch gerade wieder einmal in dieser erschreckenden Weise über das Alter geredet, aber immerhin hat er täglich Scarlett Johansson vor der Kamera und, wenn er so alt wird, wie seine Eltern, kann er auch noch mit ihrer Tochter drehen.

Ein bitterer Moment, man spürt richtig, wie die momentane Verfassung des Autors durchschlägt. Als Vorbote des Todes läge "die ewige Ruhe" schon Intervalle bei uns ein, Zeiten, während derer man nichts mehr unternimmt: "Einen Fuß auf eine Stufe setzen, wenn es nötig ist, scheint bereits ein Erfolg, als wäre einem ein gefahrvoller Absprung gelungen." Aber irgendwann gibt man dann auf und setzt keine Füße mehr auf Stufen: "Man kann nicht mehr die ermüdende Anstrengung auf sich nehmen, mit der Jugend Schritt zu halten." Zumal die Jugend ja in die falsche Richtung rennt.

Aber ich habe auch einmal irgendwo gelesen, daß man durch Tippen geistig länger frisch bleibt, weil die Finger durchblutet werden, oder durch die Bewegung der Finger das Gehirn. Man muß also nur immer fleißig tippen, dann hält man Schritt mit der Jugend. Man hat dann zwar nicht mehr viel Zeit für diese, aber man könnte ja z.B. Partys für Jugendliche geben, bei denen man natürlich ununterbrochen weitertippen muß, um nicht auf der Stelle zu Staub zu zerfallen.

Was dieser "kleine Kreis" bedeutet, erfährt man immer nur als Behauptung, nie aus der Anschauung, denn gewöhnlicher, hartherziger und dümmer als seine Getreuen kann man eigentlich nicht sein. Die Patronin "...hielt den 'kleinen Kreis' für etwas so Einzigartiges auf der Welt, eine jener vollkommenen Gemeinschaften, wie sie nur alle Jahrhunderte einmal zustande kommen, daß sie bei dem Gedanken zitterte, irgendwelche Leute aus der Provinz bei sich eindringen zu sehen, die nichts vom Ring und den Meistersingern wußten, die sicherlich in dem Konzert der allgemeinen Unterhaltung ihren Part nicht durchzuführen verstanden und womöglich, wenn sie Madame Verdurin besuchten, einen der berühmten Mittwochabende, das heißt ein unvergleichliches und so empfindliches Meisterwerk, daß, ähnlich wie bei den zarten venezianischen Glaswaren, ein falscher Ton genügte, um es zu zerbrechen, gründlich verderben könnten." Meine Partys waren dagegen immer eher aus Jenaer Glas gemacht, falsche Töne konnten ihnen nichts anhaben. In diesem Jahr wird es gar keine geben.

Marcel fragt Professor Brichot zu seiner Meinung zum ortsnamenskundlichen Werk dieses Priesters aus Combray, und Brichot führt sechs Seiten lang aus, wie fehlerhaft die Broschüre ist. Es geht dabei darum, wie man Namensendungen, wie "bricq", "fleur", "vieux", "hon", "dun", "ai", "tuit", "graignes" richtig entschlüsselt.

Danach kommt wieder ein Beispiel für die Technik, mit der Proust Figuren einführt, nämlich meistens indem sie Marcel ein erstes Mal unerkannt begegnen, bevor er erfährt, um wen es sich gehandelt hat. Man weiß also nie, ob eine Nebenfigur, die kurz porträtiert wird, später einmal ganze Bücher füllt. So war es bisher u.a. mit Gilberte, Charlus und Albertine. Und jetzt zeigt sich auch, daß die vermeintliche Puffmutter, die ihn am anderen Tag beim Küssen von Albertine im Zug gestört hatte, in Wirklichkeit die russische Fürstin Scherbatow war. Es hat also schon Tradition, im Outfit russischer Frauen etwas leicht nuttiges zu erkennen.

Wozu wird das alles berichtet? Eigentlich passiert nicht mehr, als daß der "kleine Kreis" für den Rest der Fahrt im Abteil der russischen Fürstin Platz nimmt. Ich weiß ja bis jetzt noch nichts über die Reihenfolge der Niederschrift der "Recherche", aber ich will hoffen, daß der Verfasser, je mehr er sich der Gegenwart nähert, und je besser er sich vermutlich folglich noch an das Geschehene erinnert, sich nicht auch entsprechend ausführlich dazu äußert.

Unklares Inventar: - Einen "Kasten" bekommen.

  • Botokuden.

Katalog kommunikativer Knackpunkte: - "Ah! Wir werden also die Marquise de Cambremer sehen? sagte Cottard mit einem Lächeln, das er mit einem gewissen Zug von sentimentalem Schwerenötertum zu untermalen für nötig hielt, obwohl er gar nicht wußte, ob Madame de Cambremer hübsch sei oder nicht."

Selbständig lebensfähige Sentenz: - "'Liegt Néhomme', fragte ich, 'nicht ganz nah bei Carquethuit und Clitourps?'"

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