Schmidt liest Proust |
Freitag, 3. November 2006
Berlin - IV Sodom und Gomorra - Seite 333-353 jochenheißtschonwer, 03.11.06, 22:06
Ohne Grund fiel mir gestern ein, wie der Bus vom Schienenersatzverkehr auf dem Weg nach Jena immer in Göschwitz hielt, und die Fahrgäste geduldig warteten, während der Busfahrer am Kiosk einen Kaffee trank, und man durchs Fenster den Mechanikern von der Autowerkstatt nebenan zusah, die gemeinsam einen Abschleppwagen einwiesen und danach noch beieinanderstanden und Männergespräche führten. Als sich die Runde aufgelöst hatte, ging der Chef wieder nach hinten, blieb aber noch einmal kurz stehen, bückte sich mit seinem kaputten Rücken und sammelte ein paar Zigarettenkippen aus der mickrigen Blumenrabatte. Ich stelle mir dann immer zwanghaft vor, wie ich mich in solch einem Leben machen würde. Vermutlich habe ich mir das Bild nur gemerkt, weil ich ein Jahr lang an den Kippen vorbeigegangen wäre, ohne den Entschluß zu fassen, mich danach zu bücken. Wenn man sich immer nur merkt, was für einen nicht selbstverständlich ist, hat man am Ende natürlich ein eigenartiges Bild von der Welt im Kopf. Der Bus fuhr dann weiter durch den Industriepark vor Jena, und man sah mit Bedauern, wie sich heute in solchen Industriegebieten, die früher einmal Gegenden mit Charakter waren, nur noch mit Firmen gefüllte Schuhkartons aneinanderreihen. Gewindefabrik. Feuerverzinken. Jenoptik. Spedition. Präzisionsteile. Lithotec. Es gab auch einen "Schlemmer-Treff" und einen "Vicious-Loveclub". Nach Jena mußte ich, weil ich wieder an diesem Rumänisch-Intensivkurs teilnahm. Bei Rumänisch gucken immer alle ungläubig und wollen einen plausiblen Grund wissen, warum man die Sprache lernt. Ich sage dann, daß "vrajitor" auf Rumänisch der Zauberer ist, und wenn man bedenkt, daß "wratch" im Russischen der Arzt ist, aber in den anderen slawischen Sprachen der Arzt immer etwas ähnliches wie "lekar", dann reicht das doch als Grund. Wie sich die Semantik verschiebt, und Wörter "frei" werden, und andere Bedeutungsnuancen an ihnen in den Mittelpunkt rücken, es wäre doch traurig, wenn man nur die Hälfte der Geschichte kennen würde, weil man sich die Nachbarsprachen nicht ansieht. Auf dem Hof der Uni in Jena verrosten verklumpte Schrottberge, die von Frank Stella zusammengeschweißt wurden, und die er dieser Kleinstadt in einem sicher von den Nachwendewirren verursachten Moment der Unaufmerksamkeit andrehen konnte. Ich habe immer Angst, daß der normale, kunstferne Mensch denkt, er müßte das jetzt gut finden. Gerade die, die mit Kunst nichts am Hut haben, glauben ja oft noch daran, daß es so etwas wie Kunst gibt. Die Kunst wird von den Künstlern diskreditiert. Auf dem Wühltisch gab es die Memoiren von Simone Signoret: "La nostalgie n'est plus ce qu'elle était". Und die Frau am Kaffeestand im Parterre der Mensa hat sich schon am zweiten Tag mein Gesicht gemerkt und kesse Bemerkungen gemacht: "Bei dem jungen Mann zuckt nichts mehr, der braucht Zückli." Bei unserer rumänischen Lehrerin konnte ich ein paar Deutschfehler sammeln, die ich so mag, weil ich von selbst nicht darauf kommen würde. Richtig reden kann ja jeder, dafür gibt es schließlich Regeln. Ausländer sind oft sehr beleidigt, wenn man sich über ihre Fehler freut, so wenig haben die Menschen verstanden, was der Witz an Sprache ist. Sie sagte z.B. "das Gespül" für "das Geschirr" und "Adler" für "Adliger". "Das war sehr beeindrucksvoll". Ich habe ihr zum Abschied zwei Tassen mit Samtgriff aus der Porzellanfabrik besorgt, aber weil ich rechtzeitig zur Brillenschlangenparty nach Berlin mußte, habe ich mich bei der schriftlichen Prüfung beeilen und vor dem Schluß gehen müssen und mich nicht getraut, ihr vor den Augen aller Teilnehmer mein Geschenk zu überreichen. Jetzt stehen die Tassen im Küchenschrank. Ich habe auch noch eine eingepackte Barock-CD, ein Geschenk von meiner Mutter für meine erste Freundin, und, ebenfalls eingewickelt, einen Band "Murphy" von Beckett, in dem vorne steht: "Viel Spaß mit meinem Lieblingsbuch", aber ich weiß nicht mehr, wem ich dieses Geschenk am 12.2.2000 nicht gegeben habe. Seite 333-353 Kümmerlich wird man für seine Geduld belohnt, schon die Hälfte von "Sodom und Gomorra" ist um, und, nach starkem Auftakt, war von beidem seitdem kaum noch etwas zu sehen. Zum Glück hat es damals in Frankreich ab und zu geregnet: "Beim Anblick von Albertines Regenmantel, in dem sie eine andere Person geworden zu sein schien, die unermüdliche Wandrerin der Regentage, dieses Mantels, der dicht an ihr haftend, geschmeidig und grau, in diesem Augenblick weniger ihr Kleid gegen Nässe zu schützen als vielmehr von ihr selbst durchweicht dem Körper meiner Freundin sich anzulegen schien, als wolle ein Bildhauer danach einen Abdruck von ihren Formen nehmen, riß ich die Hülle von ihr fort, die so eifersüchtig ihre ersehnte Brust umschmiegte, und zog Albertine dicht an mich heran." So weit so gut, aber was tut er jetzt mit ihr? Er nimmt ihren Kopf zwischen seine Hände und zeigt ihr die stummen Wiesen, "die sich im sinkenden Abendlicht bis an den Horizont erstreckten..." Das ist doch pervers, aber auf eine wenig pittoreske Art pervers. Am Mittwoch darauf fährt Marcel mit der Bahn zu Madame Verdurin, und "der kleine Kreis" ihrer Getreuen steigt zu, angeführt von Doktor Cottard. Es sind immer noch dieselben Gestalten, und man weiß immer noch nicht, was der Reiz an solch einem Salon sein soll. Die strenge Patronin hat es nicht gern, wenn jemand, weil seine Mutter stirbt, weil er Grippe hat, oder weil er verliebt ist, einen der Besuchstage verpaßt. Gerade bei den Verliebten versteht sie sich darauf "die Wunde auszubrennen", damit sie bald wieder vollwertige Salongäste sind. Saniette, der damals wegen Langweiligkeit aus dem Kreis vergrault worden war, ist wieder mit von der Partie, wenn sich auch an seiner Langweiligkeit nichts geändert hat. Immerhin kann die Beschreibung der Langweiligkeit eines Langweilers recht kurzweilig sein: "Da er sich bewußt war, daß er oft langweilig wirkte und daß man ihm nicht zuhörte, versuchte er, anstatt, wie Cottard es getan hätte, seine Rede zu verlangsamen und die Aufmerksamkeit durch eine gebietende Miene zu erzwingen, für den zu ernsthaften Charakter seiner Gespräche durch einen scherzhaften Ton Verzeihung zu erlangen, auch sprudelte er seine Erzählungen viel zu rasch hervor, haspelte sie herunter, gebrauchte Abkürzungen, um weniger langatmig oder auch vertrauter mit den Dingen, von denen er sprach, zu erscheinen, erweckte aber dadurch nur, indem er sie vollends unverständlich machte, den Anschein, als vermöge er nie ein Ende zu finden." Es kommt durchaus einmal vor, daß ein gutherziger Mitgast ihm auf einen seiner mißlungenen Scherze hin ein Lächeln zuteil werden läßt, "aber nur ganz verstohlen, ohne die Aufmerksamkeit der anderen zu erregen, so wie man jemandem einen Geldschein zusteckt. [..] Lange nachdem die Geschichte beendet und unter den Tisch gefallen war, sah man Saniette noch betrübt und einsam in sich hineinlächeln, als genieße er in sich selbst und ganz für sich allein noch deren Köstlichkeit, die ihm, so tat er wenigstens, genügte, auch wenn die anderen nichts daran gefunden hatten." Neu im Kreis ist der Bildhauer Ski, den man so nennt, weil sein polnischer Name zu schwer auszusprechen ist. Er hat mit Elstir ein paar wenige Äußerlichkeiten gemein: "Sie genügten jedoch, damit Elstir, der ihm einmal begegnet war, gegen Ski eine tiefe Abneigung faßte, welche uns, mehr noch als extrem andersgeartete Wesen, diejenigen einflößen, die uns ähnlich sind, nur in geringerer Ausführung, bei denen alles offen zutage liegt, was wir an Unerfreulichem in uns haben, die unsere inzwischen abgelegten Fehler noch einmal vor uns ausbreiten und uns aufs fatalste in Erinnerung rufen, wie wir wahrscheinlich in den Augen anderer gewirkt haben, ehe wir wurden, was wir nunmehr sind." Diejenigen, die unsere inzwischen abgelegten Fehler ständig vor uns ausbreiten, sind ja eigentlich unsere Eltern, die einerseits einfach so bleiben, wie wir nicht sein wollten, und uns andererseits dauernd erzählen, wie wir angeblich einmal waren. Unklares Inventar: - Supraporten.
Katalog kommunikativer Knackpunkte: - "Er suchte beim Sprechen seine Worte, um glauben zu machen, daß es sich um einen ganz besonderen Eindruck handle, den er beschreiben wolle..." Verlorene Praxis: - Von dem Eisenbahnbeamten in Doville sehr tief gegrüßt werden.
Selbständig lebensfähige Sentenz: - "...in der Liebe, in welche das Verlangen einen Riesenmaßstab einführt und die geringsten Zeichen von Kühle zu ungeheuren Dimensionen anschwellen läßt..."
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