Schmidt liest Proust |
Donnerstag, 31. August 2006
Berlin - II S.402-423 jochenheißtschonwer, 31.08.06, 18:39
Die scheinbare Lückenlosigkeit des Berichts, was im Buch nicht vorkommt, ist auch nicht erwähnenswert. Weil Proust sich jedem Detail so ausführlich widmen kann, als wolle er beweisen, daß es in einem Leben nichts Nebensächliches gibt, suggeriert er auch, nichts ausgelassen zu haben. Ein Stück Teegebäck wird zum Symbol für einer ganzen Poetik, und der Erzählfluß ist ein gleichbleibend mächtiger Schwall, nur manchmal baut er für eine Pointe einen kürzeren Satz ein, als "stolpere" er. Vielleicht wird hier dem Menschen in seiner alten Form ein Denkmal gesetzt, aber es wird sicher schon etwas gemogelt, es muß einfach Lücken geben. Immerhin wird das Wesen eines Menschen in seinen unkontrollierbaren Erinnerungsschüben, in den sozialen Ängsten und übertriebenen Sehnsüchten gesucht und nicht in irgendwelchen Leistungen. Für mich werden Menschen, mit denen ich zu tun habe, erst als Menschen wahrnehmbar, wenn sie etwas Unverstandenes an sich preisgegeben haben, eine eigenartige Kindheitserinnerung, einen peinlichen Tick, einen lächerlichen Wunsch. Wie bekommt man sie so weit, aus der Deckung zu gehen? Bei meiner Arbeit als Nachruf-Autor für den Tagesspiegel sucht man immer nach solchen Stellen, wo sich der wirkliche Mensch versteckt hält, während einem die Witwe des Verstorbenen seinen SPD-Mitgliedsausweis zeigt und sagt: "Im Grunde hat er nur für seinen Garten gelebt." Die möglichen Menschen in sich, die man ermorden mußte, um für seinen Garten zu leben, interessieren einen als Autor, nicht, was schließlich daraus geworden ist. Vielleicht ist das ungerecht. S.402-423 Marcel hat bereits "einen Eindruck davon bekommen, in welchem Maße die Frauen auf Männer, mit denen sie leben, verfeinernd einwirken können." Auch die Großmutter erkannte Monsieur de Charlus "ein geradezu weibliches Zartgefühl zu, die Empfänglichkeit einer Frau. Später, als wir allein waren und von ihm sprachen, kamen wir beide darin überein, daß er den tiefgehenden Einfluß einer Frau, seiner Mutter oder später vielleicht einer Tochter, sofern er eine habe, an sich erfahren haben müsse." Wenn ich mein Zartgefühl mit dem meiner Tochter vergleiche, dann bin hier eher ich dafür zuständig, ihr etwas von der "Empfänglichkeit der Frau" zu vermitteln. Jedenfalls schubse ich Gleichaltrige, die ich gern habe, nicht einfach um, nachdem ich sie umarmt habe. Und ich bin froh, daß große Frauen nicht mehr einpullern, um einem etwas zu sagen, auch wenn das eine sehr verfeinerte Kommunikationsform ist. Weil Saint-Loup die Traurigkeit erwähnt, die Marcel "oft des Abends vor dem Einschlafen befiel", klopft Charlus am Abend noch einmal bei ihm an, um ihm ein neues Werk von Bergotte zu borgen. Marcel ist hocherfreut, er hatte schon Angst gehabt, auf Charlus einfältig gewirkt zu haben: "Aber nicht doch, antwortete er in weit sanfterem Ton. Sie besitzen vielleicht keinerlei persönliches Verdienst, wie wenige haben es! Aber für eine Zeit noch haben Sie jedenfalls Ihre Jugend, und von ihr geht immer ein Zauber aus." Aber bei nächster Gelegenheit zwickt er ihn am Strand "plump vertraulich in den Hals", um eine ironische Bemerkung über Marcels Großmutter zu machen. Marcel sagt darauf: "- Monsieur, ich liebe und verehre sie!
Noch etwas Moralistik, zum Thema Neid: "In den Fällen aber, bei denen die Vervielfältigung der schwachen persönlichen Vorzüge durch die Eigenliebe nicht ausreichen würde, um jedem die ihm besser als anderen zugeteilte Dosis an Glück zu garantieren, die er braucht, gibt es den Ausweg des Neides, der den Unterschied verringern hilft. Allerdings muß man, wenn der Neid sich in verächtlichen Bemerkungen Luft macht, ein 'Ich will ihn nicht kennenlernen' durch ein 'Ich habe keine Möglichkeit, ihn kennenzulernen' übersetzen. Man weiß, daß es nicht wahr ist, sagt es aber doch nicht nur, um andern Sand in die Augen zu streuen, sondern weil man so fühlt, und das genügt, um die Distanz zu überbrücken, das heißt: es genügt zum Glück." Dazu kann ich nichts sagen, weil mir die Vervielfältigung meiner schwachen persönlichen Vorzüge durch meine Eigenliebe oft genug nicht gelingt, und ich deshalb den Ausweg des Neides allzuoft brauche. Ein Beispiel habe ich gerade wieder gestrichen, um mich beruflich nicht in Teufels Küche zu bringen. Aber jeder hätte zugegeben, daß mein Neid in diesem Fall mehr als berechtigt ist. Schließlich brüstet sich Bloch damit, Odette, deren Namen er gar nicht kennt, im Pariser Vorortzug getroffen zu haben, wo sie ihm "ihre Gunst geschenkt" habe. Sie habe sich im "dreimal hintereinander, und zwar auf die raffinierteste Art" hingegeben. Und jetzt wünscht er von Marcel "in den Besitz ihrer Adresse zu kommen und so bei ihr ein paarmal in der Woche die Freuden des von den Göttern geliebten Eros zu genießen." Was für ein Widerling, sich an Odette zu vergreifen! Und man kann nichts dagegen tun, weil das Buch schon gedruckt ist! Marcels Eltern hatten schon Recht gehabt, ihn aus diesem Roman verbannen zu wollen. ... Link |
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