Schmidt liest Proust
Mittwoch, 16. August 2006

Regionalbahn Berlin-Frankfurt/Oder - II S.88-109

Gestern zeigte sich jemand überrascht, er hätte mir nicht zugetraut, daß ich Proust lese. Dabei dachte ich, man würde mir meinen versnobten Kulturgeschmack an der Nasenspitze ansehen, woran sonst sollte es liegen, daß sich Frauen instinktiv von mir fern halten. Es wäre sicher wünschenswert, wenn einem Leistungen und Qualitäten äußerlich anzusehen wären, dann könnte man zur Abschlußprüfung an der Universität einfach ein Paßfoto einreichen, anstatt eine demütigende Prozedur über sich ergehen lassen zu müssen. Andererseits führt das mimische Repräsentieren des eigenen Werts zu einer gewissen Steifheit im Ausdruck und zu den schrulligen Gesten, die Proust so schön beschreibt, und von denen ich meine, an den Menschen heute viel weniger zu beobachten. Man putzt sein Monokel nicht mehr auf zur eigenen Stellung passende Art, man versucht höchstens, die Zigarette individuell zu halten, aber da sind die Möglichkeiten begrenzt. Vielleicht sollte man sich auch im Gegenteil, wie Andy Warhol, bemühen, unsichtbar zu werden, je größer die Diskrepanz zwischen Leistung und Charisma, um so stärker lenkt man die Aufmerksamkeit auf die Leistung. Bzw. man hinterläßt mit seiner unspektakulären Erscheinung eine signifikante Leerstelle, die die Phantasie der Menschen anregt, sich die verborgenen Qualitäten an einem dazuzudenken, weil sich niemand vorstellen kann, daß so ein Würstchen solche Texte schreibt. Trotzdem ist es erschreckend zu erfahren, wie sehr man immer noch unterschätzt wird, und die Menschen, die das tun, verhalten sich ungefähr so naiv, wie jene Bewohner eines Dorfs am Fuß eines Vulkans, die nicht daran glauben, daß er je ausbrechen wird, einfach, weil es so unbequem für sie wäre.

S.88-109 Gilberte schreibt Marcel, er darf zu ihren Teegesellschaften erscheinen. Dort ißt er mehr Schokoladenkuchen, als sein Magen verkraftet, und trinkt viele Tassen Tee, wo ihn doch schon eine einzige 24 Stunden wachhält. Aber er ist im Haus der Swanns völlig benommen und vergißt alle Vorsichtsmaßregeln. Und dabei gibt es im Innern dieses Reiches das noch weit geheimere "in dem Swann und seine Frau ihr übernatürliches Dasein führten." Die Eltern der Freundin, ich habe nie verstanden, wie man sich, ohne sie zu kennen, für ein Mädchen entscheiden konnte. Gerade in jungen Jahren waren die Eltern ja doch der eigentlich interessante Teil an der Beziehung. Kein Wunder, daß Marcel nur stammeln kann, wenn er Swanns Bibliothek betreten darf und die neuesten Sammlerstücke gezeigt bekommt. Auch Odette sammelt, aber Menschen für ihren Salon. Hier guten Zuwachs zu gewinnen, ist für sie "wie ein Kolonialkrieg". Wobei gilt: "...daß ein großer Teil des Vergnügens, das eine Frau daran findet, in ein anderes Milieu als ihr bisheriges einzudringen, ihr abgehen würde, wenn sie nicht ihre alten Bekannten von den relativ glänzenden Beziehungen, die an ihre Stelle getreten sind, in Kenntnis setzen könnte." Heute nennt man es Networking. Ganz am Rande wird zum ersten mal Albertine erwähnt, ein Mädchen, das früher ein paar Klassen unter Gilberte in die Schule ging. Da sie später im Buch noch eine wichtige Rolle spielen wird, erwähne ich, daß sie erwähnt wird, obwohl ich eigentlich noch nicht wissen kann, daß es "ganz am Rande" geschieht. Aber ich habe mich ja auch längst entschlossen, das Buch, gleich nach Beendigung, noch ein zweites mal zu lesen, um die Wirkung solcher Effekte richtig genießen zu können. Es ist dabei wie mit der ungeküßten Odette, mit jeder Seite verabschiedet man sich für immer von einem Stück unbekanntem Proust.

Verlorene Praxis: - eine Nachricht über den Kanal kabeln.

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