Schmidt liest Proust
Samstag, 12. August 2006

Berlin - II S.1-28

Gérard Genette bemerkt in "Paratexte", daß der Ehrgeiz vieler Autoren darin liege, so dicke Bücher zu schreiben, daß Autorennamen und Titel auf dem Buchrücken horizontal Platz finden. Ob das den Verkauf befördert? Wenn man Prousts Buch nicht in sieben Teile zerhackt hätte (im Original haben die Verleger wohl noch viel mehr Stücke herausgeschlagen), auf den Buchrücken hätte auch noch ein Werbebanner für Breitling-Uhren gepaßt. Gestern habe ich den ersten Teil abgeschlossen und Stolz und Wehmut empfunden. So lange trägt man das Buch mit sich herum, der Einband wird fleckig, der Seitenspiegel färbt sich schwarz von den Fingern, und jetzt ist man durch, stellt es weg und kann mit etwas besserem Gewissen sterben. Aber daß große Kunst sich so zufälligen Grenzen unterordnen muß, wie sie unsere Wahrnehmung bietet, bleibt ein Makel. Bilder dürfen so klein sein, daß man eine Brille braucht, aber kein Rasterelektronenmikroskop, Symphonien dürfen nicht länger dauern als ein Menschenleben, Bücher nicht dicker sein als hoch und in der Regel nicht höher als ein Durchschnittsmensch. Alles muß sich menschlichen Maßen unterordnen. Wozu gibt es überhaupt Romananfänge und Romanenden? Jeder gute Roman ist doch Teil des großen Sphärenromans und existiert seit Erschaffung der Welt. Man kann es natürlich auch positiv sehen, Ende und Anfang eines Buchs sind ja prominente Orte für den Text, so wie am Ende und am Anfang des Lebens gesprochener Text besondere Aufmerksamkeit genießt. Man kann also die formale Einschränkung als inspirierende Spielregel annehmen. Menschen haben nun mal ohne Regeln keinen Spaß. Zum Versteckspielen gehört es einfach, daß einer die anderen sucht, sonst wird es schnell langweilig. Und zum Romane schreiben gehört anscheinend, daß man irgendwann anfängt, und irgendwann (in der Regel danach) aufhört. Aber man hat trotzdem ein komisches Gefühl dabei, daß ein Künstler, wie Proust, sich in seinem Werk so etwas zufälligem und gattungsbedingtem wie unserer menschlichen Vorstellung vom Aufbau eines Buchs beugen mußte.

II S.1-28 Umwertung der Werte, Swann wird als vulgärer Wichtigtuer, Doktor Cottard, inzwischen Professor, als hervorragender Gelehrter eingeführt. Das erklärt sich ganz einfach, Swann hat eben geheiratet: "Unter Anpassung seiner Instinkte, Wünsche und jener Umsicht, die er stets hatte walten lassen, an die bescheidenen Ambitionen seiner Frau hatte er es darauf angelegt, sich weit unterhalb seiner früheren Position eine neue zu schaffen, welche der Gefährtin, mit der er sie zu teilen gedachte, angemessen war." Immerhin gut, wenn man in seinen Ambitionen noch Spielraum nach unten hat. "Wenn Swann sich um diese neuen Beziehungen so eifrig bemühte und sie voller Stolz aufzählte, so hielt er es wie jene bescheidenen oder großzügigen Künstler von Rang, die, wenn sie am Ende ihres Lebens sich mit Kochkunst oder ihrem Garten beschäftigen, eine naive Genugtuung empfinden, sobald man die von ihnen zubereiteten Gerichte oder ihre Blumenbeete lobt, doch hier die Kritik nicht vertragen, die sie ruhig gelten lassen, wenn es um die bedeutendsten ihrer Werke geht..." Wenn meine bedeutendsten Werke mißachtet wurden, und ich wieder nicht zum Bachmannpreis eingeladen worden war, habe ich das auch immer ruhig gelten lassen, aber wenn beim Fußball meine Mannschaftsdienlichkeit und mein Stellungsspiel nicht gewürdigt wurden, und ich beim Wählen bis zum Schluß übrig blieb, hat mich das tief gekränkt. Da wird selbst ein bescheidener und großzügiger Künstler kindisch. Und Cottard? "...seine außergewöhnliche Gehemmtheit, Schüchternheit und Liebenswürdigkeit [hatten] ihm in seiner Jugend überall verletzende Bemerkungen eingetragen." Seit er sich bemühte, sich zu verstellen, und immer eine eisige Miene aufzusetzen, hatte er Erfolg. Soll man sich das zu Herzen nehmen?

Was macht die Gesellschaft wahrer Aristokraten so angenehm? "...daß eine gewisse aristokratische Schicht von Kindheit an dazu erzogen wird, ihren Namen als ein angeborenes Prestige zu betrachten, das niemand ihr rauben kann [...] und daher überzeugt ist, daß sie sich, da sie nichts dabei zu gewinnen hat, die Bemühungen sparen kann, die ohne greifbares äußeres Resultat so viele Bürger machen, indem sie nur bewährte Ideen proklamieren und nur rechtdenkende Kreise besuchen."

Marcel will nicht Botschafter werden, weil er dann ja später in irgendeine Hauptstadt geschickt wird, in der Gilberte nicht wohnt. Das ist gar nicht so abwegig, schließlich hat man früher seine Zukünftigen ja auch immer darauf geprüft, ob sich ihr Vorname mit dem eigenen Nachnamen gepaart, gut anhören würde. Als Schriftsteller könnte Marcel in Gilbertes Nähe bleiben, aber zum Schreiben hat er zwar "den lebhaften Wunsch, aber doch nicht die Kraft." Immer noch will er will "die Berma" als Phädra sehen, und "das an solchen Meisterwerken haftende Prestige" in sich lebendig werden spüren. Was er sich von solch einer Vorstellung erwartet, war "...etwas ganz anderes als ein Vergnügen, nämlich vielmehr die Begegnung mit Wahrheiten, die einer wirklicheren Welt angehörten als der, in welcher ich lebte, und deren einmal gewonnener Ertrag mir nicht durch belanglose, wenn auch vielleicht körperlich schmerzhafte Zwischenfälle meines müßigen Daseins je geraubt werden könnte." Denn es ist schon vorher klar, daß er aus dem Theater krank nach Hause kommen wird. Trotzdem erlauben ihm die Eltern endlich den Theaterbesuch, aber sofort bekommt er ein schlechtes Gewissen, weil er ihnen ja jetzt so dankbar ist, daß er fürchtet, ihnen in Zukunft Kummer zu bereiten und bei dem Gedanken sofort traurig wird. Außerdem ist er ja durch die Erlaubnis praktisch zum Vergnügen verpflichtet. Als sich der Entschluß, doch zu gehen, in ihm endlich durchsetzt, freut er sich so, "...daß ich vor Vergnügen [...] von einem Fuß auf den andern hüpfte..." Ich glaube, das ist nicht das erste mal, daß er diese Reaktion an sich beschreibt, das klingt eher so, als müßte er aufs Klo, aber vielleicht ist das ja in dem Alter auch dasselbe. Schließlich die Berma in ihrem Theater, wo sie meist die für sie verfaßten Stücke von Modeschriftstellern spielt. Sie ist eine echte Diva, und man kann für die "Chaussee der Enthusiasten" noch etwas von ihr lernen. In ihrer Nähe ist immer ein Gefäß mit heißem Wasser versteckt, in dem sich der Bühnenstaub niederschlagen soll (bei uns stehen Schüsseln mit Wasser für die Hunde der Zuschauer). Das ganze Theater, die Schließer, das Publikum "waren für sie nur ein zweites, sie weiter außen umhüllendes Gewand, das sie umnehmen und als einen mehr oder weniger guten Wärmeleiter für ihr Talent empfinden würde." (Der RAW-Tempel als Gewand und Wärmeleiter für mein Talent?) Im Theater geht Marcel zum ersten mal auf, daß "dank einer Anordnung, die ein Symbol jeglicher Wahrnehmung ist, jeder sich im Mittelpunkt des Theaters fühlt..." Ein dreimaliges Klopfen, "das so aufregend war wie Signale vom Planeten Mars", kündigt den Beginn der Vorstellung an. Anders als beim Rezitieren, leben Menschen "uns einen Tag ihres Lebens vor, in den ich heimlich eindringen durfte, ohne daß sie es merkten..." Eine interessante Vorstellung, daß die Schauspieler gar nicht merken, daß die Zuschauer da sind. Vielleicht sollte man einmal ein Stück ohne Schlußapplaus inszenieren, das so lange dauert, bis auch der letzte Zuschauer gegangen ist, und das alles, ohne daß sich die Schauspieler etwas anmerken lassen. Aber als Zuschauer fällt es einem leider viel schwerer, die Anwesenheit der anderen Zuschauer nicht zu bemerkeb. Marcel empfindet ein Unbehagen darüber, werden "diese trampelnden Rohlingen" die Berma auch respektvoll genug behandeln? Er wirft ihnen "flehende Blicke zu". Das ist natürlich ein Widerspruch in sich, einem Ereignis wie der Berma als Phädra in der Gesellschaft von trampelnden Rohlingen beizuwohnen. Und noch dazu fühlt sich jeder von ihnen im Mittelpunkt des Theaters und bildet sich ein, sie würde nur für ihn spielen, wo sie doch nur für uns spielt. Und ausgerechnet im Moment, als die Berma endlich auftritt, ist das heutige Pensum um. Wie gesagt, ohne Regeln macht das Spiel keinen Spaß.

(Nur zum Trost noch einer dieser Vergleiche, mit denen das Buch so reich gesegnet ist. Françoise bereitet ein Essen vor und ging "...so wie Michelangelo acht Monate in den Bergen von Carrara verbrachte, um die vollkommensten Marmorblöcke für das Grabmal Julius' des Zweiten auszuwählen – selbst in die Hallen, um sich das saftigste Stück Rindsfilet, die vortrefflichsten Waadtschinken und die besten Kalbsfüße zu beschaffen."

Unklares Inventar: - die französische Schuldenkommission in Ägypten.

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