Schmidt liest Proust
Dienstag, 15. August 2006

Berlin - II S.68-88

"Mit Ingrimm" stellt er fest, daß er sich besser an die Gesichter des Karussellmanns und der Süßigkeitenhändlerin erinnert, als an das von Gilberte, die er doch zu lieben meint: "...so sind diejenigen, die ein geliebtes Wesen verloren haben, das sie niemals im Träume wiedersehen, außer sich darüber, daß sie unaufhörlich im Schlaf höchst unerfreulichen Leuten begegnen, die sie schon im Wachzustand am liebsten nicht sehen würden. In ihrer Unfähigkeit, sich den Gegenstand ihrer Trauer vorzustellen, neigen sie fast zu der Meinung, sie trauerten eben nicht genug. Ich selber aber war nicht weit davon entfernt, zu glauben, daß ich, da ich mir die Züge Gilbertes nicht mehr ins Gedächtnis rufen konnte, sie eben nicht mehr liebte." Dabei ist die Liebe vielleicht gerade in dem Moment erloschen, wo man ihr Gesicht im Geist ganz unverschwommen sieht. Zum 1.Januar hat er ihr über Swanns Lebkuchenverkäufer auf den Champs-Elysées (wegen Ausschlag und "der Hartleibigkeit des Propheten" (?) konsumiert Swann regelmäßig Lebkuchen), einen Brief zukommen lassen, und darin ihre alte, kummervolle Freundschaft mit dem Ende des Jahres für erloschen erklärt und eine neue, solide angekündigt. Offenbar ist er schon der gefährlichen Neigung zum Briefeschreiben erlegen, die noch nie etwas gebracht hat. Weil Gilberte ihm eröffnet, ihre Eltern könnten ihn nicht leiden, schreibt er einen 16seitigen Brief an Swann, in dem er ihm seiner Bewunderung versichert. Sich unverstanden und ausgeschlossen zu fühlen, der Impuls für eine Schriftstellerkarriere.

Ein seltsamer Moment, von seinem Unglück lenkt Marcel ausgerechnet "die muffige Kühle" eines Klohäuschens ab. Die Ursache für den unverstandenen, beglückenden und beruhigenden Reiz dieses Dufts wird ihm erst am Abend klar, als ihm einfällt, daß er ihn an das Schlafzimmer seines Onkels Adolphe in Combray erinnert hatte (war der Onkel inkontinent?) "Doch konnte ich nicht begreifen und hob mir für später auf, darüber nachzudenken, wieso die Erinnerung an einen so unbedeutenden Eindruck mir solches Glück geschenkt habe." Wirklich, er eignet sich nicht zum Schriftsteller: "...ein wahrhafter Rauschzustand wurde mir nicht durch eine große Idee, sondern durch Moderduft zuteil." Nun ja, er hat aus seiner Schwäche ein überaus erfolgreiches Programm gemacht. Es sind unsere Defekte, die uns auszeichnen.

Gilberte, die das Haar noch offen trug, vielleicht "weil ihre Mutter wollte, daß sie länger kindlich wirke, um selbst dadurch jünger zu scheinen" (was für ein abgründiger Gedanke, der einem die Augen dafür öffnet, was in den Köpfen von jungen Müttern vorgeht.) Er bittet sie, mit ihr zum Spaß um seinen Brief an Swann zu ringen, den Gilberte mitgebracht hat, aber "in der Hitze des Spiels" "strömte genauso wie ein paar Schweißtropfen, die die Anstrengung einem entlockt, meine Lust aus mir, ohne daß ich auch nur Zeit gehabt hätte, sie richtig auszukosten..." Ejaculatio praecox, nach dem Genuß von modrigem Kloduft, beim Ringen um einen verkappten Liebesbrief an den Vater der Angebeteten. Wäre das eine bewußte Inszenierung, wäre es fast etwas platt, aber bei Proust darf man ja darauf vertrauen, daß nichts erfunden und alles zur Zeit des Geschehens unverstanden gewesen ist. Man wird allerdings fast neidisch auf Marcels sexuelle Erfolgsgeschichte, eine Ejaculatio praecox auf den Champs-Elysées, die ja immerhin voraussetzt, daß man eine Frau in der Nähe hat. Damit wäre dem jungen Proust schon mehr gelungen, als mir in meiner ganzen Pubertät.

Gleich im Anschluß endlich ausführlicheres zu Marcels neuropathischen Zuständen, "meine gewohnten kleinen Übel, deren beständiges Weben in meinem Innern meinen Geist nur noch sowenig berührte wie mein Blutkreislauf..." 40° Fieber verheimlicht er, um mit Gilberte auf den Champs-Elysées "Barlauf" zu spielen, wieder zu Hause hat er eine Lungenentzündung, und das bei seinen ohnehin chronischen Erstickungsanfällen. Ein Ritual: "stellte ich ein betrübliches Symptom an mir fest, das ich noch nicht genau definieren konnte..." wird die Großmutter eingeweiht. Ihr Mitleid verursacht ihm wieder Qualen, worauf er das Leiden, da sie ja nun darüber informiert ist, herunterspielen kann: "...mein Körper hatte erreichen wollen, daß man ihm genau das ihm zukommende Maß an Mitleid spendete..." Aber die Ursache der Erstickungsanfälle kann vielfältig sein: "innere Nervenkrämpfe", Tuberkolose, Asthma, Lebensmittelvergiftung mit Niereninsuffizienz, chronische Bronchitis, oder ein "komplexer Krankheitszustand" aus mehreren dieser Faktoren. Was von der einen Krankheit kuriert, wirkt bei der anderen schädlich. Doktor Cottard erkennt instinktiv die richtige Ursache, weil er ein guter Diagnostiker ist. "Diese geheimnisvolle Gabe schließt keineswegs eine Überlegenheit auch der anderen Bezirke des Geistes ein..." Gute Ärzte müssen nicht intelligent sein (eigentlich gilt das ja für fast alle Berufe). Abführmittel, Milchdiät, kein Fleisch, um durch "Anregung der Lebertätigkeit und Durchspülung der Nieren" die Bronchien zu befreien. Aber auch für die Zukunft ein Champs-Elysées-Verbot, wegen der schlechten Luft dort. Marcel soll also Gilberte nicht mehr sehen: "...und ich zwang mich, unaufhörlich ihren Namen zu wiederholen, so wie Besiegte bestrebt sind, in der Gefangenschaft ihre Muttersprache zu pflegen, um die Heimat nicht zu vergessen, die sie niemals wiedersehen werden." Was für ein gelungenes Bild, man fragt sich, warum man so einen Vergleich so genießt, wo er doch eigentlich etwas unpräzise ist, es gibt schließlich keine zwei Dinge, die sich wirklich gleich en. Aber gerade die leichte Übertreibung und das Unangemessene machen die Würze aus. Eigentlich eine komische Wirkung, eine Kinderliebe mit Kriegsgefangenschaft zu vergleichen, aber andererseits völlig zutreffend. Bis jetzt kann ich nicht begreifen und hebe mir für später auf, darüber nachzudenken, wieso solche Vergleiche einen so beglücken.

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