Schmidt liest Proust
Donnerstag, 10. August 2006

Odessa, Uspenskaja 13 - S.461-482

"Ochota und Rijbalka" ("Jagd und Angeln"), mein Lieblingssender im hiesigen Kabel-Spektrum. Es ist doch eigentlich das gleiche, ob man selbst am Ufer sitzt und auf den Biß wartet, oder ob man vor dem Fernseher ausharrt, um nicht zu verpassen, wenn sie bei einem anderen beißen. So ist es auch angenehmer, über das Liebesunglück eines anderen zu lesen, als es selbst erleben zu müssen. Muß man geangelt haben, um ein Angler zu sein? Muß man geliebt haben, um eine Liebesgeschichte zu lesen? Hat schon einmal ein Angler, nachdem er endlich den richtigen Fisch gefangen hat, befriedigt das Angeln eingestellt?

S.461-482 Ein Zeitsprung, die Odette-Episode hatte sich ja vor Marcels Geburt abgespielt. Jetzt hat wieder Marcel das Wort, und das bedeutet, daß allein die Namen der Stationen an der Eisenbahnstrecke nach Quimperlé Gelegenheit für seitenlange Prosapoesie sind. Einerseits ist es sinnlos, an Orte zu reisen, von deren Namen man nicht geträumt hat, andererseits ist die spätere Reise dorthin nur um so enttäuschender: "Selbst unter einem ganz realen Gesichtspunkt nehmen die Gegenden, nach denen wir uns sehnen, in jedem Augenblick unseres wirklichen Lebens sehr viel mehr Raum ein als das Land, in dem wir uns befinden." Die nervöse Natur des kleinen Marcel muß seinen Eltern Rätsel aufgegeben haben. Weil sein Vater ihm ankündigt, Marcel werde demnächst nach Venedig fahren dürfen, wird er vor Freude krank: "...mit einer äußersten, meine Kräfte fast übersteigenden gymnastischen Leistung warf ich die Luft meines Zimmers wie ein wesenloses Gehäuse von mir ab und ersetzte sie durch eine gleiche Schicht venezianischer Atmosphäre, einen Hauch vom Meere her, unsagbar und eigenartig wie der meiner Träume es war, den meine Phantasie in den Namen Venedig hineingelegt hatte; ich spürte, wie sich in mir eine wunderbare Entselbstung vollzog; daneben aber tauchte fast gleichzeitig jener unklare Brechreiz auf, den man bei heftigem Halsweh verspürt, und ich wurde mit einem hartnäckigen Fieber zu Bett geschickt..." Auf Anraten des Arztes wird er nicht nach Venedig gelassen, sondern muß, um seine Nerven zu schonen, für ein Jahr zu Hause bleiben. Was für ein eigenartiges Kind, man kündigt ihm ein Vergnügen an, und es muß sich übergeben und wird krank. Zur Erholung muß Marcel täglich auf den Champs-Elysées spazieren gehen, die ihm gleichgültig sind, weil sein Lieblingsautor Bergotte nie über sie geschrieben hat, und sie deshalb in seine Phantasie keinen Eingang gefunden haben: "...nichts in diesem Park paßte zu meinen Träumen." Eine Absage an romantische Naturerfahrung, oder Tourismus. Man empfindet nichts, wenn man nicht vorher darüber gelesen hat. Man bereitet sich auf eine Reise am besten vor, indem man jahrelang von den Ortsnamen träumt. Das unendliche Gebiet, das ich in der Fremde betrete, und das außer mir existiert, muß nach Bezügen zu mir abgesucht werden, und wenn es nur die Hausnummer ist, die dieselbe ist, wie in einer früheren Straße an einem anderen Ort. Umgekehrt kann durch ungünstige Bezüge auch eine Abneigung aufkommen, irgendwohin zu fahren. Zu Hause bei Goethes hingen Stiche mit Ansichten aus Italien, die der Vater von dort mitgebracht hatte. Goethe selbst hat das eher die Lust genommen, dorthin zu fahren, weil er unter seinem strengen Vater litt und dessen Reise nicht wiederholen wollte. Er hat dann aus Italien für immer Goethes Italien gemacht, und damit einerseits den Auftrag des Vaters erfüllt und andererseits sich selbst durchgesetzt. Ausgerechnet auf den Champs-Elysées trifft Marcel nun Gilberte wieder, die Tochter von Swann. Er darf mit ihr "Barlauf" spielen, was immer das sein mag (eigentlich klingt es ja eher nach einem Spiel für Erwachsene.) Und jetzt geht die ganze Liebeskomödie wieder los: kommt sie heute, kommt sie nicht? Wird er mit ihr sprechen? Was macht sie, wenn er sie nicht sieht? Eine ganze Seite kann man über die Farbe des gegenüberliegenden Balkons schreiben, von der man das Wetter abliest, von dem es wiederum abhängt, ob Gilberte kommen wird. Für mich war es immer der Asphalt in Buch, würden die trockenen Flecken rechtzeitig die Pfützen zurückdrängen und das Fußballspiel gegen die Parallelklasse stattfinden? Oder würden die Balkonbrüstungen der Plattenbauten ihre regengrauen Schlieren behalten? Im Winter ist die Seine zugefroren: "...der nun alle, selbst die Kinder, sich furchtlos näherten wie einem riesigen gestrandeten Wal, der wehrlos seiner Zerteilung entgegensieht." Was für ein Bild! Eine Statue "...trug jetzt einen Eisklumpen in der Hand, der ihre Gebärde zu motivieren schien." Marcel wundert sich selbst über seine Grausamkeit, bei der Vorstellung, die Großmutter sei unterwegs zu ihnen überfahren worden, denkt er als erstes daran, daß er dann ja nicht zu Hause bleiben müßte und noch einmal auf die Champs-Elysées zu Gilberte gehen könnte: "...man liebt niemanden mehr, wenn man liebt." Als Gilberte zum ersten mal seinen Vornamen in einem Satz ausspricht, ist ihm "...als habe sie einen Augenblick lang mich selbst in ihrem Munde gehalten..." Wie geht ein Namenfetischist, wie Marcel Proust eigentlich damit um, daß es noch andere Menschen gibt, die Marcel heißen? Obwohl ich das Problem ja kenne, aber mir kommt es immer vor, als heiße nur ich richtig Schmidt, ein paar andere tragen den Namen zwar auch, aber es ist doch jedem klar, daß der eigentliche Schmidt ich bin. Zur Kinderliebe gehört der "schmerzliche Reiz", den die Eltern der Angebeteten für ihn besitzen. Außerdem fällt sie in eine naive Lebensphase, in der man noch ungeübt ist "in der Kultur seiner Freuden" und glaubt "...daß die Liebe wirklich etwas außerhalb von uns Existierendes sei..." "True love exists, we see it on our monitors", wie ein israelischer Gehirnforscher mal zu mir sagte. Eines Tages werde es Spritzen geben, um einen davon zu heilen. Aber würde man so einer Therapie auch zustimmen? Oder wird man gar nicht gefragt, und es ist, wie wenn man im Koma liegt, und die Familie erstreitet, um einen nicht länger zu quälen, vor Gericht das Recht, die Liebe in einem abzuschalten?

Verlorene Praxis: - Ihr einen Rohrpostbrief schicken.

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