Schmidt liest Proust
Donnerstag, 24. August 2006

Oderbruch - II S.259-279

Beim Laufen auf dem Deich hat mich ein Gewitter überholt, man konnte sich umdrehen und sehen, wie der Weg sich dunkel färbte und die Regenwand auf einen zukam, schade, daß Proust nicht da war. Die überschwemmte Sumpflandschaft hinter den Deichen sieht irgendwie russisch aus, oder wie russische Maler sich Rußland vorstellen, mit Bäumen im Wasser, aus dem hier und da ein paar Grasflecken ragen. Landschaft, die noch nie ein Mensch betreten hat. Später hat mich wie jeden Tag Jens mit dem Jauchewagen überholt, auf dem Weg zur Klärgrube. Der Betrieb scheint zu florieren, Jauche geht immer. Ein älteres Paar war zu sehen, das auf einem handtuchgroßen Grundstück, das schon seit ich denken kann unerklärlicherweise in einen LPG-Acker hineinragt, nebeneinander knieend Unkraut hackte. Mir tat der Rücken vom Zusehen weh, wenn die Evolutionstheorie stimmen würde, müßten Landmenschen Arme haben, die bis zum Boden reichen. Bald kommt die Zeit, wo es hier heißen wird: "Ostwind von überall". Und nicht mehr lange, dann ist wieder Frühling. Das Problem an der Natur ist, daß sie einem jeden Antrieb zu geistiger Tätigkeit nimmt, die Sache rollt ja irgendwie, am besten man läßt sie machen. Man sollte ihr gegenüber die Haltung von Großeltern einnehmen, die schon zu genießen gelernt haben, daß die Wirtschaft auch ohne sie läuft.

S.259-279 Zwei Jahre später, Gilberte ist im Prinzip vergessen. "Oft, da ja unser Leben sowenig chronologisch verläuft, vielmehr so manchen Abstecher in der Zeit in unsere Tage einzuschieben weiß, lebte ich in den mehr als gestrigen oder vorgestrigen, als ich Gilberte noch liebte [..] Das Ich, das sie geliebt hatte und das schon fast ganz von einem andern ersetzt worden war, tauchte wieder auf, und zwar viel häufiger aus einem nichtigen Anlaß als aus einem wichtigen Grund." Wir leben nicht nur in der Gegenwart und sind eine Vielzahl von verschüttetem Ichs, die man sich wachrufen kann. Aber alle zu verwalten, die sich in einem langen Leben anhäufen, ist eine ermüdende Arbeit. Die Frage ist, ob sie auch einen Sinn hat.

Das Gedächtnis arbeitet paradox, die Gewohnheit schwächt gerade die starken Eindrücke ab, aber das Unbedeutende behält seine Kraft: "Daher lebt der beste Teil unseres Erinnerns außerhalb von uns, in dem feuchten Hauch eines Regentages, dem Geruch eines ungelüfteten Raums, dem Duft eines ersten Feuers im Kamin, das heißt überall da, wo wir von uns selbst das wiederfinden, was unsere Intelligenz als unverwendbar abgelehnt hatte, die letzte Reserve, die beste der Vergangenheit, die, wenn all unsere Tränen versiegt sind, uns immer noch neue entlocken wird." (Erinnern heißt also weinen...) Kinder sind dann eine Art nichttriviale Mustererkennungsmaschine, bei der man nie weiß, auf welche Muster in ihrem Gesichtsfeld sie reagieren. Und ihr Gedächtnis ist ein unkonventionelles Netz, das man über seine eigene Gegenwart wirft, und in dem sich nicht der größte Fisch fängt, sondern vielleicht der kleinste, den man selber übersehen hat. In 20 Jahren wird man staunen, was hängengeblieben ist (wenn sie dann noch mit einem reden.)

Das beste Mittel gegen Liebeskummer ist Verreisen, Marcel fährt mit der Großmutter nach Balbec ans Meer. "In Balbec unterstützte ein neues Bett, an dem mir jeden Morgen ein anderes Frühstück als das in Paris gewohnte serviert wurde, die Gedanken nicht mehr, aus denen meine Liebe zu Gilberte ihre Nahrung gezogen hatte." (Vielleicht hätte es ja auch schon geholfen, sich in Paris sein Frühstück mal selbst zu holen.) Er hatte lange von der "persischen" Kirche in Balbec geträumt, von der er nur Bilder besaß, und die er für sich quasi mitten im Meer stehend, von Wellen umtost sah. Diese Vorstellung hatte sich schon aus dem Klang des Namens "Balbec" ergeben. Jetzt wartet die nächste Ernüchterung auf ihn (nach der Berma und Bergotte, und vielleicht ja auch dem halb unterschlagenen ersten Sex mit der Cousine auf dem Sofa der Tante). Aber er ist schon ein Ernüchterungsprofi: "Ich aber hatte, sogar schon bevor ich die Berma sah, gelernt: was immer ich liebte, würde mir nur nach qualvollem Ringen zuteil, in dessen Verlauf ich zunächst mein Vergnügen jenem höchsten Gut opfern müsse, anstatt ihm nachzugeben."

Die Mutter hat nicht bis zur Abfahrt des Zuges gewartet: "...bei der die zuvor hinter dem Kommen und Gehen und den noch nicht definitiv verpflichtenden Vorbereitungen verborgene Trennung, der man nun nicht mehr entgehen kann, unmöglich zu ertragen scheint, wenn sie mit einem Male verdichtet in einer zur Ewigkeit werdenden Sekunde ohnmächtiger Hellsichtigkeit vor uns steht." (Diese zur Ewigkeit gewordene Sekunde ohnmächtiger Hellsichtigkeit beim Abschied, Alptraum und perverser Reiz von Fernbeziehungen.)

Er bekommt Bier und Kognak zu trinken, um weniger unter der Fahrt zu leiden. Dadurch entzücken ihn die silbernen Reflexe auf den Metallknöpfen des Schaffners. Außerdem empfindet er "ein Wohlgefühl dabei mit halboffenem Munde dazusitzen" (während seine Oma Madame de Sévigné liest, eine Szene die geradezu nach einer Verfilmung schreit.)

Wieder ein Beispiel für Prousts Kunst, fast sentenziöse Passagen einzustreuen und dabei kulturelle Vorgänge beispielhaft zusammenzufassen, wobei er immer Bilder einstreut, die jeder hätte sehen können, aber niemand vor ihm beachtet hat: "Sonnenaufgänge gehören zu langen Eisenbahnfahrten wie hartgekochte Eier, illustrierte Zeitschriften, Kartenspiele und Flüsse, auf denen Kähne sich abmühen, ohne vorwärtszukommen." Man spürt förmlich die Lust, die er bei so einem Fund empfindet.

Eingerahmt vom Zugfenster, also wie ein bewegtes Gemälde, sieht er eine bemerkenswerte Szene. Weil der Zug auf seiner Strecke häufige Wendungen macht, ist auf der einen Seite schon Morgen und auf der anderen noch Nacht. Er rennt immer hin und her, um das Bild im ganzen zu erfassen. Dabei sieht er ein großes Mädchen aus einem Haus treten "...und auf dem von der schräg einfallenden Morgensonne beschienenen Pfad mit einer Milchkanne in der Hand auf den Bahnhof zukommen..." Ja, die einfachen Reize des Landlebens, ein bißchen wie die Quarkstulle, nach der sich Des Esseintes in "À rebours" plötzlich sehnt. "Ich fühlte bei ihrem Anblick den Durst nach Leben, der jedesmal dann entsteht, wenn uns von neuem Schönheit und Glück bewußt werden. Wir vergessen immer, daß beide etwas Individuelles sind, und ersetzen sie in unserm Geist durch einen konventionellen Typ, den wir aus einer Art von Querschnitt durch die Gesichter gewinnen, die uns gefallen, den Genüssen, die wir an uns erfahren haben, und so erhalten wir nur Abstraktionen, die kraftlos und matt bleiben müssen, da ihnen gerade jenes Charakteristikum einer neuen und von allen uns bislang bekannten unterschiedenen Sache fehlt, jenes Eigentliche der Schönheit und des Glücks. Wir fällen über das Leben ein pessimistisches Urteil, das wir für richtig halten, da wir glauben, auch Glück uns Schönheit in Rechnung gestellt zu haben; doch haben wir diese durch Synthesen ersetzt, in denen von beiden keine Spur mehr vorhanden ist." Die flüchtige Begegnung mit einer anonymen Fremden, auf Reisen oder wie bei Baudelaire in der Stadt. Wie schön, wenn man noch jung ist, und sie als Versprechen empfindet und nicht wie Menschen in meinem Alter als Symbol aller im Leben verpaßten Möglichkeiten. "So gähnt ein literarischer Kenner von vornherein, wenn man ihm von einem neuen 'schönen Buche' spricht, weil er sich darunter einen Absud aus allen schönen Büchern, die er gelesen hat, vorstellt, während ein schönes Buch einzigartig und unvorhersehbar ist, nicht die Quintessenz aller ihm vorausgegangenen Meisterwerke, sondern etwas, was man durch vollkommene Aneignung aller dieser nicht finden kann, denn es liegt ja außerhalb ihrer." (Und diese Qualität des "schönen Buchs", das sich "außerhalb aller bisherigen Bücher" befindet, hängt nicht an seinem Plot, vielleicht noch nicht einmal an seinem Inhalt, sondern an etwas, was man nicht beschreiben kann, ohne das Buch selbst zu zitieren. Aber die Kritik arbeitet heute mit markigen Scheinoppositionen: autobiographisch/welthaltig, Pop/Ernst, politische Prosa/Alltagsprosa, Osterinnerungen/Westerinnerungen. Alles keine echten Gegensätze und vor allem keine Kriterien, um Texte zu bewerten.)

"Gewöhnlich leben wir mit einem auf das Minimum reduzierten Teil unseres Wesens, die meisten unserer Fähigkeiten wachen gar nicht auf, weil sie sich in dem Bewußtsein zur Ruhe begeben, daß die Gewohnheit schon weiß, was sie zu tun hat, und ihrer nicht bedarf." Es kann aber auch zur Sucht werden, seinen eingeschlafenen Fähigkeiten nachzuforschen und Teile seines reduzierten Wesens aufzuwecken.

Dieses "erhöhte Lebensgefühl" beim Anblick des Mädchens "nicht ohne weiteres untergehen zu lassen und von dem Wesen nicht auf ewig getrennt zu sein..." Dieser Zustand gibt "allem, was ich sah einen anderen Klang, er führte mich als Mitwirkender in ein unbekanntes und unendlich viel interessanteres Universum ein." Das Mädchen mit der Milchkanne ein interessanteres Universum als der kleine Proust? Man könnte es auch etwa tiefer hängen, als Charakterisierung der belebenden Kraft des Urlaubsflirts. In der Form hat sich die Proustsche Erfahrung vielleicht längst popularisiert, und am Ende heißt es für die neu erwachten Teile des reduzierten Wesens unseres kaufmännischen Leiters eines mittelständischen Betriebes auf Italienurlaub: "Arrivederci Claire, wenn noch mal Sommer wär, machten wir zwei nochmal Urlaub am blauen Meer..."

Und schließlich die Ernüchterung: In Balbec muß man zum Meer fünf Meilen fahren (nach Balbec-Plage, der alte Reiseveranstaltertrick). Der ersehnte Kirchturm erhebt sich statt hagelumtost und "wie eine trutzige normannische Klippe" über "flutumspülten Klippen" an einem Platz, wo sich zwei Straßenbahnlinien kreuzen und wo an einem Café "in goldenen Lettern das Wort 'Billard' stand." (Heute steht dort "Coca Cola" und es gibt sicher keine Straßenbahn mehr, sondern einen Kreisverkehr. Und vermutlich wurde das Wort Billard "in goldenen Lettern" vom "Office du Tourisme" kürzlich wieder angebracht, um die Nostalgie der Touristen nach Prousts Epoche zu befriedigen.)

Verlorene Praxis: - sich als Jugendlicher, um zu verhindern, daß man während der Fahrt aus Nervosität Erstickungsanfälle bekommt, auf ärztlichen Rat bei der Abreise eine reichliche Dosis Bier oder Kognak zuführen, "um dadurch in einen [vom Arzt] als 'euphorisch' bezeichneten Zustand zu geraten, in welchem das Nervensystem vorübergehend weniger verletzlich sei".

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