Schmidt liest Proust
Montag, 28. August 2006

Oderbruch - II S.320-340

Ursprünglich war ich davon ausgegangen, daß ich pro Abschnitt eine halbe Seite zu schreiben hätte, jetzt zeigt sich, daß ich täglich drei Stunden mit Proust verbringe, um überhaupt hinterherzukommen, man könnte also fast von Arbeit sprechen. Warum mache ich das gerne und nicht stattdessen das, was man von mir verlangt? Warum würde es mich auf Monate lähmen, wenn ich dieselbe Arbeit nicht freiwillig, sondern für ein Studium oder für einen Auftraggeber erledigen müßte? Im wissenschaftlichen Rahmen müßte ich aus meinem Text genau die Stellen streichen, die mir am meisten Spaß machen. Man müßte sich bei jeder Spekulation durch Sekundärliteratur absichern und den Resonanzraum der eigenen Erfahrung und die eigene Lust am Text möglichst ausschließen. Ich dürfte also nicht, indem ich über Proust schreibe, über mich schreiben, und das würde der Anstrengung ihren Sinn nehmen. Man könnte behaupten, daß man als Wissenschaftler ja auf einer höheren Ebene und viel subtiler über sich schreibt, weil einen die blanke Subjektivität, die ich mir leiste, langweilt. So, wie mich meine subjektiven Betrachtungen, wenn sie von jemand anderem stammen würden, langweilen würden. Der Autor muß es eben schaffen, beim Leser das Begehren zu wecken, vom Autor wahrgenommen zu werden.

S.320-340 Der Slapstick sozialer Gesten: "Endlich nahmen auch wir eine Verbindung auf, die gegen den Willen meiner Großmutter zustande kam, aber doch ihr zu verdanken war, denn sie und Madame de Villeparisis platzten eines Morgens in der Tür unmittelbar aufeinander und sahen sich gezwungen, miteinander zu reden, nicht ohne zuvor eine Mimik des Erstaunens, Zögerns, Zurückweichens, Zweifelns, der Höflichkeitsbezeigungen und Freudenbeteuerungen durchlaufen zu haben wie in einem Stück von Molière, wo wir annehmen sollen, daß zwei der agierenden Personen, die seit langem jede auf ihrer Seite nur ein paar Schritte voneinander entfernt Monologe halten, sich noch nicht gesehen haben, dann aber plötzlich einander bemerken, ihren Augen nicht trauen wollen, abgerissene Sätze stammeln und schließlich, wenn das Herz der Zwiesprache nachgekommen ist, zu gleicher Zeit reden und einander in die Arme stürzen." Das erinnert mich an das amüsante Hin und Her, das wir im Kindergarten oder in der Schule beobachteten, wenn ein Lehrer einem anderen Lehrer einen geringen Betrag zurückzahlen wollte, der sich weigerte, das Geld anzunehmen, während der Schuldner in seinem Bemühen nicht nachließ. Eine Deadlock-Situation, wie kurz vor dem ersten Kuß, wo auch einer das Risiko tragen muß, um nicht festzuhängen.

Was macht Marcel nach dem Essen bei Tisch "zu jenem unschönen Zeitpunkt, da die Messer nachlässig neben den zerknüllten Servietten herumliegen"? "Um in mir, damit ich Balbec auch weiterhin lieben könnte, die Vorstellung wachzuhalten, ich befände mich an einem der äußersten Punkte der Erde, bemühte ich mich, in die Ferne zu blicken, nichts als das Meer zu sehen, darauf die von Baudelaire beschriebenen Stimmungen zu erkennen und meine Blicke auf unserm Tisch nur an jenen Tagen ruhen zu lassen, wo irgendein großer Fisch aufgetragen wurde, der im Gegensatz zu Messern und Gabeln schon in jener Urzeit existiert hatte, als das erste Leben im Ozean entstand, zur Zeit der Kymrer bereits; eine Art Seeungetüm, dessen Leib mit den unzähligen Rückenwirbeln und dem blau und rosa Geäder von der Natur nach einem architektonischen Plan erbaut worden war wie eine in vielen Farben gehaltene Meereskathedrale." Wieder staunt man, daß jemand, der sich so verzweifelt bemüht, ständig "in die Ferne zu blicken", dabei doch so viel beobachtet und es noch Jahre später rekapitulieren kann. Vielleicht ist das die gesteigerte Aufmerksamkeit desjenigen, der einschlafen will und dem noch das kleinste störende Geräusch in der Umgebung nicht entgeht, weil es ihn immer wieder aufweckt.

Durch ihre Bekanntschaft mit Madame de Villeparisis nimmt auch die Prinzessin von Luxemburg von Marcel und seiner Großmutter Notiz: "Sie hatte sogar in ihrem Eifer, nicht so zu wirken, als throne sie in einer über der unseren liegenden Sphäre, zweifellos die Distanz falsch berechnet, denn infolge einer falschen Einstellung tränkten sich ihre Blicke mit derartiger Güte, daß ich den Augenblick kommen sah, da sie uns streicheln würde wie zwei nette Tiere, die im Jardin d'Acclimatation durch ein Gitter ihren Kopf vorstreckten." Die Distanz zwischen Adel und Bürgerlichen, damals immerhin noch klar definiert. Heute befinden wir uns ständig im Zweifel, wie groß die Distanz zwischen uns und den anderen ist, weil uns die alten Klassenmerkmale fehlen. Daran, daß wir zu einer ständigen Berechnung der Distanz der anderen und des Neigungswinkels, gezwungen ist, den man einnehmen muß, um zu ihnen herab oder heraufzureichen, hat sich aber nichts geändert. Manchmal spricht man auf einer Party mit jemandem und er tut einem fast leid, weil er "die Distanz falsch berechnet hat" oder der vermittelnde Dritte verschwunden ist, und er sich jetzt mit einem unterhalten muß, obwohl man ihm nur seine Zeit stiehlt. Wenn es sich um einen bekannten Autor handelt, möchte man ihm beruhigend die Hand auf die Schulter legen und sagen: "Es wird alles gut, ich werde eines Tages so bedeutend sein, daß sich unser jetziges Gespräch im nachhinein als gar nicht so überflüssig erweisen wird." Und dabei würde man denken: 'Ich werde sogar bedeutender als du sein und du tätest gut daran, dir diesen Moment einzuprägen, weil er einmal zu den glanzvollen in ihrem Leben gehören wird.' Und dann tut mir mein Gegenüber schon wieder leid, weil er von seinem Privileg nichts ahnt.

Ein wenig hatte ich gestern vorgeblättert und war über einen Satz gestolpert, der einen erotischen Höhepunkt versprach: "Womit war es verdient, daß an dem einen Morgen, nicht aber an einem anderen das spaltbreit geöffnete Fenster meinem bewundernden Blick die Nymphe Glaukonome zeigte, wie sie in träger, weich atmender Schöne die Transparenz des von milchigen Nebeln durchzogenen Smaragdes besaß, in dem ich die Elemente greifbar schweben sah, die ihm seine Farbe verliehen?" Aber jetzt, wo ich regulär an der Stelle angelangt bin, stellt sich heraus, daß es sich doch nicht um den heimlich erhaschten Anblick einer nackten Hotelnachbarin handelt, sondern daß Marcel mit der "Nymphe" einfach nur das Meer meint.

Und wieder gibt es einen Druckfehler "sie habe ihre Gabe um sehr mehr geschätzt", statt "umso mehr". Zwei Schnitzer auf so engem Raum, vielleicht war der Korrektor abgelenkt, weil die politische Lage angespannt war? Das Buch ist 1974 bei uns erschienen, also wird es 1973 korrigiert worden sein. Was hat dem Korrektor die Aufmerksamkeit gestohlen? Oder war es ein heimlicher Sabotageakt, Fehler zu übersehen?

Verlorene Praxis: - den Zuckerstangenhändler auf der Strandmole "von dem kleinen, in roten Atlas gekleideten Neger" bezahlen lassen, der einen überallhin begleitet.

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