Schmidt liest Proust
Samstag, 26. August 2006

Oderbruch - II S.300-320

Mein sportpsychologisches Trainingslager im Oderbruch neigt sich dem Ende zu. Bevor sie sich hier morgens nicht mehr nur, wenn das Postauto kommt, sondern auch, wenn ich vorbeilaufe, auf die Straße stellen und auf die Uhr sehen, sollte ich abreisen. Wie immer hat man gedacht, abseits vom eigentlichen Arbeitsplatz bessere Ideen zu haben, und jetzt freut man sich, bald wieder da zu sitzen, von wo man nur für einen kurzen Teil des Sommers aufzubrechen pflegt, um nach den Menschen zu sehen. Der Widerspruch zwischen dem Sommergefühl und dem, was man sonst mitmachen muß, ist auch nicht kleiner, als der zwischen Verliebtheit und Gewohnheitselend oder kurzen Hosen und langen Hosen. Bald wird mein Butler mir morgens wieder die schweren englischen Tweedstoffe herauslegen und ich werde mürrisch meine Besitzungen abschreiten und von liegengebliebenen Tennisbällen reinigen. Dann eile ich ins Haus, weil mir eingefallen ist, daß der Gewehrgurt vom Sattler zurück sein müßte. Ein paar Schüsse werden mir das Gemüt entwölken und mir die Zeit vertreiben, bis meine Gattin von ihrer Wohltätigkeitstournee durch die Elendsgebiete Europas heimgekehrt ist. Ich wüßte nicht, wie ich das Leben ertragen sollte, wenn ich kein englisches Landgut besäße, irgendwann muß ich mich einmal bei den Leuten im Dorf erkundigen, wie sie es schaffen, sich mit so wenig zufriedenzugeben und dabei oft so fröhlich zu wirken. Sicher liegt es an ihrer mangelnden Intelligenz.

S.300-320 Das Palace-Hôtel ist von Provinzhonoratioren und ihren mißgünstigen Gattinnen bevölkert. Sie bringen ihren "Denkgewohnheiten das köstliche Beben zum Opfer, das man fühlt, wenn man sich mit der Sphäre eines unbekannten Daseins vermischt." Ein Landjunker aus alter, bretonischer Familie betrachtet das Hotel nur als Absteige, um die befreundeten Schloßbesitzer in der Nachbarschaft zu besuchen. Seine Familie hält sich ebenfalls abseits: "Ihr Hochmut bewahrte sie vor jeder menschlichen Sympathie, vor jedem Interesse an den Unbekannten, die rings um sie saßen und in deren Mitte Monsieur de Stermaria die eisige, eilige, distanzierte, unzugängliche, abweisende und übelgelaunte Miene bewahrte, die man an einem Bahnhofsbüfett inmitten von Reisenden aufsetzt, die man niemals gesehen hat, nie wiedersehen wird und mit denen einen nur die Tatsache in Beziehung setzt, daß man sein kaltes Huhn und seinen Eckplatz im Zuge gegen sie zu verteidigen gedenkt." (sechs Adjektive für einen Gesichtsausdruck!) Marcel leidet, weil er von niemandem beachtet wird. Er unterhält sich damit, in den Gesichtern von Menschen aus dem Ort, die Züge von Bekannten aus Paris wiederzufinden. Nur einmal nähert sich die Madame de Villeparisis ihrem Tisch, weil sie seine Großmutter erkannt hat. Aber diese findet, daß der Austausch von Höflichkeiten einem im Urlaub die Zeit an der frischen Luft stiehlt und gibt sich kühl. Die Madame "entfernte sich, und ich blieb in meiner Einsamkeit zurück wie ein Schiffbrüchiger, der geglaubt hat, ein Schiff nähme Kurs auf ihn, nachdem es dann wieder verschwunden ist, ohne Anker zu werfen." An der Tochter von Monsieur de Stermaria gefällt ihm "die Kargheit ihres rasch ermüdeten Blicks". Ihre bretonische Herkunft reizt ihn sofort zu einer kleinen Phantasie. Er stellt sich vor, daß er sie auf ihrem Schloß besucht, wenn sie dort einmal allein geblieben ist. Daß sie sich "in der Abenddämmerung, in der über dem Dunkel des Wassers die rosa Blüten des Heidekrauts unter den vom Schlag der Wellen berührten Eichen um so lieblicher schimmerten, uns ergehen könnten. Zusammen hätten wir die Insel durchstreift, die für mich so viel Zauber barg, weil sie das gewohnte Leben von Mademoiselle de Stermaria umschloß und als stetes Gedenken auf dem Grunde ihrer Augen lag." Ob er da mal nicht zuviel in ihre Augen hineininterpretiert. Aber was wären die Frauen ohne den vernebelnden Dekor, mit dem sie die irregeleitete Männerphantasie seit Erschaffung der Welt schmückt.

So weit, wie Marcel sich in seinen Phantasien von der Wirklichkeit entfernt, so genau ist er im Bemerken und Beschreiben von Gesten. Er interpretiert die Posen, die sich die Menschen unbewußt suchen, ohne zu wissen, was sie damit ausdrücken wollen. Dadurch nimmt er die Position des Malers ein, der im Gegensatz zu ihnen selbst, weiß, was seine Figuren darstellen sollen. Oder die eines Verhaltensforschers Tieren gegenüber. Ein Beispiel: der Generaldirektor der Hotelkette erscheint auf Inspektionsreise. "In der Meinung, daß eine von seiner Seite aufs äußerste gesteigerte Kontemplation genüge, um sicher zu sein, daß alles bereit sei und kein Fehler eine Katastrophe herbeiführen könne, und um sich ganz auf seine Verantwortung zu konzentrieren, enthielt er sich nicht nur jeder Gebärde, sondern bewegte nicht einmal seine vor Aufmerksamkeit gleichsam versteinerten Augäpfel, welche die Operation in ihrer Gesamtheit überschauten und lenkten."

Nach 811 Seiten gab es heute endlich den ersten Druckfehler, man verzweifelt ja schon fast, wenn die sorgfältige Suche nie belohnt wird. Mein Exemplar ist ja ein Nachdruck von Suhrkamp, eine "Ausgabe für die sozialistischen Länder", gedruckt im Karl-Marx-Werk Pößneck. Ob die DDR sich einen eigenen Korrektor für den West-Satz geleistet hat? Daß es nicht "sei aus dem Aquarium holen", sondern "sie aus dem Aquarium holen" ist ihm jedenfalls entgangen, aber das hat bestimmt nichts nennenswertes zum Untergang des Regimes beigetragen.

Verlorene Praxis: - einen Diener vorausschicken, um das Hotel von seiner Person und seinen Gewohnheiten in Kenntnis zu setzen.

  • sich seinem Mann zuliebe eine gewisse Bildung zulegen.

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