Schmidt liest Proust
Dienstag, 22. August 2006

Oderbruch - II S.213-235

Einsamkeit ist eine wertvolle Ressource, die Grundlage jeder intellektuellen Leistung und fast so sehr wie Prousts Roman selbst interessieren mich inzwischen die Umstände seiner Niederschrift. Wie man sechs Kinder haben und doch weiter schreiben kann, wie Thomas Mann, ist mir schleierhaft. Die Frau muß sich dann als eine Art Höllenhund verstehen, der das Arbeitszimmer bewacht und schlechte Nachrichten filtert, aber wer will mit so etwas verheiratet sein? Ziellose Träumerei und lange, egozentrische Versenkung, über die man seine Energie bezieht, sind undenkbar, wenn Geräusche und Bemerkungen auf einen niedertröpfeln wie das Wasser bei der mongolischen Folterprozedur. Ein Leben zu führen, wie dieser russische Mathematiker, der auf eine Million Dollar verzichtet, weil er seinen Beweis der Poincaré-Vermutung nicht publiziert, aus Desinteresse, es ist für ihn nur ein Teilschritt zum Beweis eines größeren Problems. Er sammelt gern Pilze und fährt nicht zu Konferenzen, mehr weiß man nicht von ihm. Ach, wie beneidet man die wirklichen Genies um ihre Reisen in Bereiche der Abstraktion, von denen man keine Vorstellung haben kann. Täglich daran zu arbeiten, die Mathematik zu erweitern, genau zu wissen, wenn einem etwas gelungen ist, weil die Beweisführung nachprüfbar ist, wenn auch mit großem Aufwand und nur von den besten unter den Kollegen. Ein Leben ohne Kritiker unter der Sonne der Objektivität. Dagegen ist die Literatur ein kümmerlicher Garten, der ständig von Barbaren überrannt wird. Es gibt in ihr keine Kriterien, die Spreu vom Weizen zu trennen, und jeder darf sich berufen fühlen zu urteilen, nur weil er eine Meinung über das Leben hat. Ein freundliches Kolportagestück, wie dieser erfolgreiche Humboldt-Roman, gilt plötzlich als stilistisches Meisterwerk, und man hat nichts in der Hand, um die, die es dazu erklären, zu überzeugen. Wenn man einmal Roland Barthes gelesen hat, kann man über das Niveau der deutschen Literaturkritik nur weinen. Aber es ist auch noch kein Beweis für die eigene Klasse, von der Kritik nicht beachtet zu werden. Wenn die Wende nicht gekommen wäre, hätte ich mein Mathematikstudium beenden müssen, man konnte im Osten ja nicht wechseln oder gar hinschmeißen. Ich wäre ein mittelmäßiger Mathematiker geworden, wahrscheinlich hätte ich in irgendeinem Betrieb im Bezirk Gera an Optimierungsaufgaben gesessen. Der Mauerfall war so etwas wie das scheuende Pferd für Swann, ohne das er Odette nie geküßt hätte, die sein Schicksal war, nach dem er sich gesehnt hat.

S.213-235 Wie bei der "Heimat"-Serie ist dem Text eine Art technikgeschichtliche Spur unterlegt. Jetzt spricht man davon, daß Madame Verdurin sich eine vollständig mit elektrischem Licht ausgestattete Villa gekauft hat. Die Schwägerin einer Freundin habe sogar ein Telefon. "Sie kann bei einem Lieferanten etwas bestellen, ohne sich aus dem Hause zu rühren." Vielleicht war das Telefon ja ursprünglich gar nicht für normale Gespräche gedacht, sondern für Anrufe bei Lieferanten, und daß wir es heute dazu benutzen, um uns zu unterhalten, ist nur ein ungeplanter Nebeneffekt, wie das Chatten beim Internet.

Marcel ist immer noch unglücklich wegen Gilberte: "Der 1.Januar war für mich dieses Jahr ein besonders schmerzlicher Tag. Alle Termine und Daten müssen es für den Unglücklichen sein." Erst Mitte Januar schwindet seine Hoffnung auf einen Neujahrsbrief (zu dem Zeitpunkt kann man sich ja schon fast wieder auf den Neujahrsbrief vom nächsten Jahr freuen.) "Wenn man verzichtet, so sucht man nicht seinen Schmerz zu ermessen, sondern ihn der, die ihn verursacht hat, in der rührendsten Form zu Bewußtsein zu bringen. Man sagt Dinge, die man gern sagen möchte und die der andere nicht versteht; man redet nur für sich selbst." Liebe ist eigentlich eine egozentrische Angelegenheit und die, die wir glücklich oder unglücklich lieben, sind nie auf dem Niveau unserer Gefühle.

Als Professor würde ich meine Studenten zwingen, die von Proust beschriebenen Inneneinrichtungen aus Pappe nachzubauen. Bei Madame Swann trat jetzt "Ostasien mehr und mehr hinter dem Rokoko zurück; und die Kissen, die jetzt zur Erhöhung meiner Behaglichkeit Madame Swann mir in den Rücken stopfte, nachdem sie sie zurechtgedrückt, waren mit Louis-Quinze-Gewinden und nicht mehr wie früher mit chinesischen Drachen verziert." Von Beschreibungsimpotenz (Peter Handke) kann man hier wirklich nicht sprechen, aber meine Vorstellungsgabe reicht nicht aus, mir diese Inneneinrichtungsorgien zu vergegenwärtigen. Das ist, als würde man sich eine "Vogue" vorlesen lassen und hinterher müßte man alles nachzeichnen. "Wegen ihres lebhaften Geistes zog Madame Swann die Gesellschaft von Männern der von Frauen vor. Doch wenn sie die letzteren kritisierte, so tat sie es stets als Kokotte, indem sie auf Mängel hinwies, die ihnen bei den Männern schadeten, dicke Fesseln, einen häßlichen Teint, orthographische Fehler, Haare an den Beinen, einen widerwärtigen Geruch, gefärbte Augenbrauen." Bis auf Orthographie war ich eigentlich bei allen diesen Mängeln immer recht tolerant (was bleibt einem auch anderes übrig).

Odettes Toilette ist ein Werk, das man studieren muß, um es ganz zu verstehen. "Man spürte, daß sie sich nicht nur nach Bedürfnissen der Bequemlichkeit kleidete oder um ihren Körper zu schmücken; sie wurde von ihrer Toilette eingehüllt wie von dem zarten, vergeistigten Apparat einer ganzen Kultur." Nur ein Beispiel, wie es sich anhört, wenn man diesen "vergeistigten Apparat" mit Worten nachzeichnet: "Und manchmal gaben in dem blauen Samt einer Taille die Andeutung eines à la Henri II geschlitzten Wamses, in der schwarzen Atlasrobe eine leichte Raffung, die entweder in der Schulterpartie an die 'Keulenärmel' von 1830 oder um die Hüften herum an die 'Paniers' der Louis-Quinze-Mode erinnerte, den Kleidern einen kaum wahrnehmbaren Einschlag von Maskenkostümen, indem sie in das Leben der Gegenwart einen unmerklichen Hauch von Vergangenheit hineintrugen, und fügten dadurch der Person Madame Swanns den Zauber gewisser historischer oder romantischer Heldinnen hinzu."

Warum wird eigentlich so lange von der Kleidung der Mutter geschwärmt, wenn man die Tochter liebt? Marcel gewöhnt sich langsam an den Schmerz, sie nicht zu sehen. Wenn man länger gelitten hat, bleibt man ja auch lieber konsequent: "Denn zweifellos kann man zwar ihre Abwesenheit nur ertragen, indem man sich diese als etwas nur Vorübergehendes denkt und in dem Glauben, daß man eines Tages sich dennoch wiedersieht; andererseits aber fühlt man, um wieviel weniger schmerzlich die täglichen Träume von naher Wiedervereinigung geworden sind, als eine Begegnung es wäre, auf die etwa Eifersucht folgte, so daß die Nachricht, man werde die Freundin wiedersehen, einen nur wenig beglückt." Zur Genese des Autors gehört es dann, sich eine bessere Welt vorzustellen, auch wenn man, anders als im politischen, kaum eine Möglichkeit hat, sie durch Aufwiegelung der Massen und Instrumentierung des Neidpotentials bestimmter Gesellschaftsschichten, Wirklichkeit werden zu lassen: "Wie sehr zieht man dann die so elastische Erinnerung, die man beliebig mit Träumereien nährt und in der, wenn man allein ist, die in Wirklichkeit gar nicht Liebende einem im Gegenteil Liebeserklärungen macht, diese Erinnerung, der man immer mehr von dem beimischt, was man gern möchte, und die man schließlich so angenehm gestaltet, wie es einem beliebt, einer solchen Begegnung, das heißt jener immer wieder aufgeschobenen Auseinandersetzung vor, bei der man mit einem Wesen zu tun hat, dem man nicht mehr nach Gutdünken Worte diktieren kann, die man zu hören wünscht, sondern von dessen Seite man neue Kälte und unerwartete Ausfälle zu gewärtigen hat!" Aber obwohl er sich "würdevoll resigniert" gebärdet, und in dieser Pose von ihr gesehen werden will, verkauft er eine von seiner hypochondrischen Tante geerbte Vase, um von dem Geld Gilberte ein Jahr lang täglich Blumen schicken zu können. Zum Antiquar macht er einen Umweg und sieht prompt auf der Avenue des Champs-Elysées Gilberte mit einem jungen Mann einhergehen. Das dumme Ding war kurz davor, ein Jahr lang Blumen geschickt zu bekommen, aber so einem unvergleichlichen Privileg zieht sie die Begleitung fremder Männer vor.

Unklares Inventar: - Eine Neigung zum "Saute-en-barque".

  • Eine leise Andeutung eines "Suivez-moi-jeune-homme".
  • Déshabillé.

Verlorene Praxis: - Die Mutter der Freundin im eleganten Déshabillé vorfinden.

  • Als Dame stets eine Haltung pflegen, die "zwischen Schreiten und Ruhe zögert".

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