Schmidt liest Proust
Sonntag, 20. August 2006

Oderbruch - II S.171-192

S.171-192 Zum ersten mal bewertet jemand Marcels Wehwehchen als Berufskrankheit des "geistigen Menschen", auch wenn er bis jetzt nur als potentieller Künstler geführt wird. Bergotte, "der meinen Fall zu kennen schien", macht sich Sorgen, ob Cottard der richtige Arzt für ihn ist. Künstler und geistige Menschen "...brauchen besondere Ärzte, ich möchte beinahe sagen, auch ganz spezielle Behandlungsweisen und Medikamente." Schon wenn ein Arzt einen langweile, mache "die Langeweile seine Behandlung ganz bestimmt unwirksam." Dabei ist hier noch gar nicht von Psychologen die Rede. Es wäre eine interessante Übung für einen Therapeuten, sich noch ausgiebiger als Marcel mit Marcels Seele zu befassen. Im Moment macht es ihm gar nichts aus, seinen Arzt langweilig zu finden: "...ich erwartete von ihm, daß er mit den Mitteln einer Kunst, deren Gesetze mir unbekannt waren, über meinen Gesundheitszustand aus meinen Eingeweiden ein unfehlbares Orakel ablas, legte aber keinen Wert darauf, daß er mit Hilfe der Intelligenz, mit welcher ich ihm selber hätte aushelfen können, die meine verstehen wollte, die ich mir nur als ein an sich belangloses Instrument vorstellte, um außer mir liegende Wahrheiten zu erforschen." Gilberte lädt er übrigens nicht zu sich ein, weil er fürchtet, daß sie seine Familie spießbürgerlich finden könnte, weil seine Mutter zum Tee auch Schokolade anbieten würde. Da hat man schon von peinlicheren Eltern gehört.

"Wieder allein, beschäftigte ich mich damit, Aussprüche zu fabrizieren, die den Swanns vielleicht hätten gefallen können...[..] ich richtete selber fingierte Fragen an mich, die ich so auswählte, daß meine glänzendsten Einfälle als glücklich formulierte Repliken darauf paßten." Wieder ein Baustein zur Genese des Autors, mangelnde Schlagfertigkeit wird mit tröstenden Selbstgesprächen kompensiert, die vielleicht irgendwann zum Text werden. Aber das Schreiben scheitert schon vor dem ersten Wort: "Wäre ich weniger entschlossen gewesen, mich endgültig an die Arbeit zu begeben, hätte ich vielleicht einen Vorstoß gemacht, gleich damit anzufangen." Was für eine paradoxe Ausrede. Die Tage vergehen im Warten auf den richtigen Moment: "Unglücklicherweise war der folgende Tag auch nicht der den Dingen zugewendete, auf aufnahmebereite, auf den ich fieberhaft harrte." Schon das Warten kann einen zermürben: "Ich brauchte, bevor mein Schwung wiederkehrte, mehrere Tage der Entspannung..." Die leiseste Andeutung der Großmutter, was denn mit seiner Arbeit sei, trifft ihn empfindlich, sie entschuldigt sich auch gleich. Immerhin scheint Proust ja ein Beispiel dafür zu sein, daß auch vollkommene Verwöhnung bei Kindern irgendwann gute Resultate zeitigen kann.

Obwohl ein Muttersöhnchen, kann man ihn nicht als verklemmt bezeichnen, er ist längst sexuell initiiert (was allerdings nur ganz nebenbei erwähnt wird) und scheut sich nicht, ins Bordell zu gehen. "Rendezvoushäuser" empfindet er schnell als ähnlich nützlich, wie "illustrierte Werke der Kunstgeschichte, Symphoniekonzerte und Monographien über 'Stätten der Kunst'", die einem durch den Vergleich den individuellen Reiz von Mantegna, Wagner oder Siena nahebringen. Der Puff als eine Art Kunstkatalog zur Verfeinerung des Frauengeschmacks. Bis auf das eine Erlebnis auf den Champs-Elysées ist bei seiner Liebe zu Gilberte nie die Rede von Sex oder auch nur Erotik. Vielleicht kann man diese Form von reiner Liebe nur pflegen, wenn man über eine gut ausgebaute Infrastruktur an Freudenhäusern und eine solide Doppelmoral verfügt. So kann er sich ganz dem seelischen Hin und Her zwischen sich und Gilberte widmen, das nie zur Ruhe kommt. Ruhe: "In der Liebe gibt es sie nicht, da das, was man erlangt, immer nur der Ausgangspunkt für neue Wünsche ist. Solange ich sie nicht hatte besuchen können, konnte ich mir mit starr auf dies unerreichbare Glück geheftetem Blick die neuen Quellen der Unruhe überhaupt nicht vorstellen, die mich erwarteten." Eines Tages will Gilberte zur Tanzstunde, muß aber zu Hause bleiben, um sich um ihren Gast Marcel zu kümmern. Er errät ihren Unmut und ist "vorbeugend selbst sofort kühler als gewöhnlich." "Ich glaube, neulich ging die Uhr nach", sagt er mehrmals zu ihr und meint: "Wie böse du heute bist." Aber Gilberte bleibt hart, und: "...wenn kein Lächeln in ihren Augen entstand und mir ihr Antlitz entschleierte..." wirkt ihr Gesicht fast häßlich. Es ist unsere Natur "...die aus sich selbst unsere Liebe und beinahe auch die Frauen, die wir lieben, ja sogar ihre Fehler schafft..." Ein ungeheurer Gedanke, wir schaffen die Fehler an unseren Frauen selbst. Der Kontrolleur produziert Schwarzfahrer, der Pünktliche produziert Unpünktlichkeit, der Mann produziert unvollkommene Frauen. Eigenschaften, die dem anderen nicht auffallen, habe ich gar nicht. Für den einen bin ich geizig, für den anderen großzügig, je nach deren Maßstäben. Marcel beschließt, sie nicht mehr zu sehen, und sofort tobt in ihm ein Sturm. "...dies Flattern des Kompasses in meinem Innern..." Und was macht er? Er entwirft sich widersprechende Konzepte für Briefe an Gilberte. Also wieder Briefe... Er weiß, daß er sie etwas vernachlässigen sollte, um nicht zu demütig zu erscheinen, dabei würde er gerne sofort hineilen. "Ich schrieb Gilberte einen Brief, in dem ich meinen Zorn frei sich ausströmen ließ, nicht jedoch ohne auch gleich für alle Fälle Rettungsbojen in Gestalt von Zufallswendungen anzubringen, an die meine Freundin eine Versöhnung hätte anknüpfen können..." Man kann sich denken, wie unwillig Gilberte so ein wohl komponiertes Produkt überfliegt, wer hätte sich je von Worten in die Liebe zurückholen lassen, vielleicht müßte der Angesprochene dafür selbst ein wenig Autor sein.

Er versucht, sich in sie hineinzuversetzen, aber: "Den Gedanken und Handlungen einer geliebten Frau gegenüber sind wir ebenso hilflos wie wahrscheinlich die ersten Physiker (bevor es eine eigentliche Naturwissenschaft gab, die etwas Licht ins Dunkel brachte) den Naturphänomenen gegenüber..." Wieder Wissenschaft als Metapher, die Frau als Naturphänomen. Marcel versucht "Ursachen zu entdecken" und "objektiv zu sein". "Doch fürchtete ich auch, in das entgegengesetzte Extrem zu fallen, bei dem ich in dem unpünktlichen Eintreffen Gilbertes zu einer Verabredung auf Grund einer Regung schlechter Laune einen nicht wiedergutzumachenden Akt der Feindschaft gesehen hätte." Seine großartige Konsequenz hält er nicht lange durch. Gleich am nächsten Tag will er wieder zu ihr gehen, und er fragt sich, warum er überhaupt so viel Willen darauf verschwendet hat, es nicht tun zu wollen. Aber, wenn wir lieben, sind wir außerstande "...als würdige Vorgänger des Wesens zu handeln, das wir sein werden, wenn wir nicht mehr lieben..."

Verlorene Praxis: - sich im Rendezvoushaus beim Warten auf ein Mädchen, das 'in Betrieb' ist, von teilweise oder komplett unbekleideten Gesprächspartnerinnen Kräutertee reichen lassen.

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