Schmidt liest Proust
Freitag, 18. August 2006

Oderbruch - II S.130-151

Ende September ist der nächste Berlin-Marathon, die Vorbereitung darauf ergreift so von einem Besitz, wie eine Frau, in die man unglücklich verliebt ist, man denkt an nichts anderes mehr und glaubt, das Problem dadurch lösen zu können. Bei jeder Gelegenheit ertappe ich mich bei Tagträumen, die von den 1-2 Kilogramm handeln, die ich noch abnehmen will. Der männliche Körper läßt sich zum Glück durch Sport beliebig verschönern und es ist leichter für mich, meinem Ideal von mir zu entsprechen, als für andere meinem Ideal von ihnen. Erstaunlich, wieviel Energie man seelisch aus der Tatsache schöpft, in Form zu sein. Als Autor müßte ich mir eigentlich Handicaps zufügen, um besser zu verstehen, wie sich die anderen Menschen fühlen. So, wie der Klavierstimmer blind ist, um besser zu hören, muß ein Autor krank sein, um besser zu sehen. Außerdem finde ich es immer beruhigend krank zu sein, weil ich dann wenigstens weiß, woran ich bin, wogegen ich, wenn ich gesund bin, Angst vor der nächsten Krankheit habe.

S.130-151 Zwei Seiten hübsches Geplänkel zwischen Swann und Odette klingen eigentlich gar nicht nach erloschener Liebe, sondern fast schon behaglich. Vielleicht ist Odette ja intelligenter und weniger schwierig, als Proust die ganze Zeit behauptet. Daß der kleine Marcel so selbstverständlich in den Haushalt der Swanns aufgenommen wird, erkläre ich mir damit, daß man damals als großer Junge ja immer schon ein künftiger Herr war. Man konnte also schon beim Jungen damit anfangen, ihn wie einen Herren zu behandeln, wogegen man heute, nach Entdeckung der Kindheit als Lebensalter, kaum noch die Chance hat, irgendwann als Erwachsener behandelt zu werden. Das Glück scheint vollkommen, aber ein Proust läßt sich von so etwas nicht übertölpeln. Daß ihm ihre Eltern verraten, daß er Gilbertes "Favorit" ist, weckt bei ihm nur neue Bedenken: "Bei einer so vollkommenen Übereinstimmung, das heißt, wenn die Wirklichkeit sich genau nach dem formt, was wir so lange geträumt haben und sich vollkommen damit deckt, ergibt sich zweifellos, daß sie uns die Formen ebenjenes Traums verbirgt und sich mit ihnen verbindet wie zwei ganz gleiche aufeinandergelegte Figuren, die nur noch eine bilden, während wir, damit unsere Freude ihren vollen Sinn bekäme, gern sähen, daß unser Wunschbild an allen Punkten in dem Augenblick, so wir daran rühren wollen - um ganz sicher zu sein, daß es das richtige ist -, die Eigenschaft des Ungreifbaren behält." Es wäre auch ein Wunder gewesen, wenn Marcel, da für ihn einmal etwas gut läuft, einfach zufrieden gewesen wäre. "Jahrelang hatte ich glauben können, daß zu Madame Swann zu gehen ein nebelhafter Wunschtraum sei, den ich nie verwirklichen würde; nachdem ich eine halbe Stunde bei ihr zugebracht hatte, war aber vielmehr die Zeit, da ich sie noch nicht kannte, nebel- und traumhaft geworden wie eine Möglichkeit, die durch das Wirklichwerden einer anderen zunichte geworden ist." Traurig, wenn einem der Zustand des Wünschens zur Heimat geworden ist, von der man sich für etwas so wenig kontrollierbares wie Glück verabschieden soll.

Früher fand ich es quälend, wenn in Büchern Wohnungen und Kleidung beschrieben wurden, heute würde ich manchem Roman eine Inventarliste mit allen Gegenständen und Fakten, die darin vorkommen vorziehen. Wie mühsam, sich diese Informationen aus dem Wust an austauschbaren Gedanken und Gefühlsbeschreibungen herausfiltern zu müssen. Für jemanden wie Proust ist natürlich jede Wohnung ein Buch. Die Wohnung der Swanns ist: "...was der Körper für die Seele ist und sich nach ihnen formte, alle diese Ideen verteilten sich - überall gleich verwirrend und unbegreiflich - auf die Anordnung der Möbel, die Dicke der Teppiche, die Lage der Fenster, den Stil der Bedienung und verschmolzen damit." Und die eigene Wohnung ist für den Autor natürlich auch Teil seines Werks, was gibt es aussagekräftigeres, als den Lebensraum, den man wählt, und sei es eine signifikante Leerstelle wie Müllers ungepflegte Plattenbauwohnung (weil ihm eigentlich ein Schloß zugestanden hätte seien ihm seine Wohnungen immer gleichgültig gewesen). Wieviel Arbeit müßte ich in meine Wohnung stecken, damit sie auf meinem Niveau ist! Bis dahin dürfte ich niemanden mehr hereinlassen. Und beim Stil der Bedienung habe ich mich noch gar nicht entschieden, ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, was da zur Auswahl steht.

Eine weitere in der Reihe der Ernüchterungen, die uns Marcel berichtet, ist die erste Begegnung mit Bergotte in Odettes Salon. Er hatte sich ihn als "göttlichen Greis" vorgestellt, als "holden Sänger im weißen Haare". Er ist so voller Bewunderung, daß er zusammenfährt "als habe man einen Revolverschuß auf mich abgegeben", weil Odette Bergottes Namen im selben Satz gleich nach seinem nennt. "...nach Art der Zauberkünstler, die tadellos im Überrock vor einem stehen, wenn der Rauch eines Flintenschusses, aus dem eine Taube entflattert ist, sich verzogen hat, erwiderte gleich darauf meinen Gruß ein kräftig gebauter, untersetzter, kurzsichtiger, kleiner junger Mann, der eine rote, vorn wie ein Schneckenhaus aufgedrehte Nase und ein schwarzes Kinnbärtchen besaß." Kein "zarter, schwacher Greis", Marcel ist "todtraurig". Er hatte sich Bergottes immenses Werk hineingedacht "in einen durch Verfall ehrwürdig gewordenen Organismus, welchen ich mir wie einen Tempel eigens dafür im Geiste aufgebaut", nicht mit Stupsnase und Kinnbart. Wenn sich Popstars dieses Mechanismus bewußt sind, dürfte für sie Sex mit Verehrerinnen ein Alptraum sein, weil sie nur enttäuschen können. Immerhin müssen sie nicht fürchten, daß ihr Ruf durch eine schlechte Leistung Schaden nimmt, da keine der anderen Verehrerinnen der enttäuschten Verehrerin glauben würde, daß ihr Star eine Niete im Bett war. Es liegt im übrigen nicht an der bloßen Diskrepanz zwischen Einbildung und sichtbarer Welt: "...die übrigens auch nicht die wahre Welt ist, da unsere Sinne über eine kaum bessere Fähigkeit verfügen als unsere Einbildungskraft, die Wirklichkeit richtig zu treffen, so daß die annähernde Anschauung, die wir schließlich doch von ihr bekommen, mindestens ebenso stark von der Welt, die wir sehen, abweicht, wie diese von unsrer Phantasie." Für Komplimente ist Bergotte taub: weil Bergottes "Leib bereits gierig dem Mahl entgegenlebte und seine Aufmerksamkeit mit anderen wichtigeren Realitäten beschäftigt war, hatte er nur ein Lächeln wie für eine abgelaufene Episode seines früheren Lebens oder als ob man ihm gegenüber auf ein Kostüm als Herzog von Guise angespielt habe, das er in einem bestimmten Jahr bei einem Kostümfest getragen..." Daß es Bergotte so wenig berührt, wenn man seine Werke lobt, schmälert für Marcel auch die Werke. Aber das eigenartigste ist Bergottes Stimme, die so gar nicht zu seinen Büchern paßt und von Marcel ausgiebig analysiert wird (über die Empfindungen beim Hören der Stimme von Lieblingsschriftstellern, siehe auch: Becketts Stimme) Was macht den Stil eines Autors aus, und warum kann man ihn höchstens imitieren, aber nie übernehmen? Die Eigenart des Stils liege "in der Fülle der realistischen und doch unerwarteten Elemente, die etwas ist wie der mit blauen Blüten besetzte Zweig, der sich über alles Erwarten noch aus der Frühlingshecke herausschiebt, die bereits voll entfaltet schien, während die rein formale Nachahmung dieser Eigenart (und dasselbe gilt von allem anderen Stilqualitäten) nur Leere und Eintönigkeit, das heißt etwas der Eigenart geradezu Entgegengesetztes ist und in den Werken der Nachahmer die Illusion davon oder die Erinnerung daran nur bei denen erzeugen kann, die sie bei den Meistern nicht begriffen haben."

Unklares Inventar: - Hummer à l'américaine

Verlorene Praxis: - morgens für die Mutter der Freundin die Toilette auswählen, die man am liebsten bei ihr sieht.

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