Schmidt liest Proust
Montag, 14. August 2006

Berlin - II S.48-69

Es muß weniger zitiert werden, man benimmt sich schon, wie junge Eltern, denen es nicht gelingt, aus den Fotos ihrer Kinder eine für andere halbwegs erträgliche Auswahl zu treffen, bevor sie sie einem zumuten. Aber es wäre zu schade, wenn gute Stellen für immer verschwinden würden, so wie sie in meinen anderen Büchern begraben liegen, die ich noch nicht abzutippen geschafft habe. Es ist ja fast schon so weit gekommen, daß man erleichtert ist, wenn ein paar Seiten lang nichts zu zitieren ist. Ich erinnere mich an eine frühe Hausarbeit zu Ernst Jüngers "Arbeiter", die laut Dozent angeblich "ein Zitatkompendium" war. Ich verstand nicht, was er wollte, die Zitate sprachen doch für sich. Sollte ich das treffend gesagte noch einmal mit eigenen Worten viel stümperhafter ausdrücken? Was war das für ein demütigender Ansatz? Die Tatsache, daß ich ein Zitat ausgewählt hatte, war doch schon ein ausreichender Kommentar, ich hatte schließlich eine Leistung vollbracht, wie ein Kunstsammler. Im Grunde hätte es gereicht, daß ich ihm mein Exemplar des "Arbeiters" ablieferte, und er sich durchlas, was ich angestrichen hatte, und mich entsprechend benotete. Daß ich alles für ihn abgetippt hatte, war doch schon nur ein Zugeständnis an die idiotischen Gepflogenheiten an der Universität gewesen.

S.48-69 Hinter Swanns Heirat mit Odette steckt also ein bißchen Erpressung wegen ihrer Tochter. Immerhin hat sie die Ehe von ihrer häufigen "abscheulichen Laune" geheilt. Trotzdem bleibt den meisten unklar, warum er sie geheiratet hat, ja, warum er sie überhaupt je so geliebt hat: "Zweifellos begreifen nur wenige Menschen, welchen rein subjektiven Charakter das Phänomen der Liebe besitzt und wie sie sich gern aus Elementen, die in ihrer Mehrzahl aus uns selber stammen, eine deutlich von derjenigen, die im wirklichen Leben den gleichen Namen trägt, unterschiedene Ersatzperson schafft." Seltsamerweise würdigen Frauen die Kreativität nicht, die man darauf verwendet, sich auf Grundlage ihrer Vorgabe eine erträgliche Ersatzperson zu schaffen. In Prousts Welt hat man noch ein genaues Gespür für Mesalliancen, die mit jenen Kreuzungsversuchen verglichen werden, "wie die Schüler Mendels sie so gerne machen" (gibt es eigentlich Fälle, in denen ohne leichte Schieflage geheiratet wird? So eine richtige Alliance, ohne Hinunterbeugen auf der einen und Prestigegewinn auf der anderen Seite?)

Norpois liest Marcels Prosagedicht aus Combray und zeigt sich wenig angetan. Auch dessen Lieblingsautor Bergotte hält er für schwach, vor allem, weil es "in seinen molluskenhaften Werken" keine Handlung gibt. "In einer Zeit wie der unsrigen, da die zunehmende Kompliziertheit des Daseins einem sowenig Zeit zum Lesen läßt, da die Karte Europas durchgreifende Umgestaltungen erfahren hat und vielleicht noch weiterhin erfährt, da so viele drohende neue Probleme auf allen Seiten auftauchen, werden sie mir zugeben müssen, daß man von einem Schriftsteller verlangen darf, er müsse etwas anderes als nur ein Schöngeist sein, der uns wie im späten Byzanz über müßigen Fragen der bloßen Form vergessen läßt, daß wir von einer Stunde zur andern von dem doppelten Ansturm der Barbaren überflutet werden können, derer, die von außen kommen, und der inneren." Heute argumentiert man immer mit dem Buchmarkt, aber man kann es ja auch einmal so sagen: wie kommen sie dazu, in einer Zeit, in der es Atombomben gibt, Bücher ohne Handlung zu schreiben? Wenn man dann auch noch die Behauptung, Politik sei das, was in den Nachrichten besprochen wird, hinzunimmt, hat man schnell alles beisammen, um einen Autor als "unpolitisch" hinzustellen, nur weil er keine Texte über die Opfer der letzten Arbeitsmarktreform schreibt.

Immerhin erklärt Norpois sich bereit, bei Madame Swann Marcels Namen anzubringen, ein Schritt in Richtung Gilberte. Vor Rührung küßt Marcel ihm fast die Hände, was Norpois leider nicht entgeht, Jahre später gibt er es in einer Gesellschaft zum besten. Es ist eben völlig unklar, was andere an einem bemerken und an welche Kleinigkeiten sie sich erinnern: "...ich war ebenso ungemein überrascht wie an dem Tage, da ich zum ersten Male in einem Buch von Maspero las, daß man noch eine genaue Liste der Jagdfreunde besitzt, die Assurbanipal sechs Jahrhunderte vor Christi Geburt zu seinen Hofjagden einlud." Odette muß wissen, daß er Norpois kennt, er "...der ich am liebsten einen Stein in Swanns Fenster geworfen hätte, nur um ihn mit der Botschaft zu versehen, ich kenne den Marquis de Norpois, war ich doch überzeugt, daß eine solche Botschaft, selbst auf eine derart gewaltsame Weise übermittelt, mir bei weitem eher ein Ansehen in den Augen der Hausherrin gegeben als sie gegen mich eingenommen hätte." Gott behüte uns vor den Verehrern unserer Töchter.

Unklares Inventar: - Pudding à la Nesselrode

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