Schmidt liest Proust
Mittwoch, 9. August 2006

Odessa, Uspenskaja 13 - S.437-461

Zwei gegensätzliche Kraefte wirken zur Zeit in mir, einmal der hier allgegenwärtige Kohl, und andererseits der großartige Kefir, den ich für ein Getränk der Götter halte, die sich bestimmt nicht von Götterspeise ernähren. Meine Stimmung ist labil, ein Text über Tschechows Leben macht mir Angst, wie kann "Die Möwe" bei der Premiere durchgefallen sein? Man kann wahrscheinlich nie dabei zu weit gehen, sich vorzustellen, wie dumm die Menschheit ist. Und, anders als man denken moechte, war es fuer Tschechow bestimmt kein Trost, Tschechow zu sein. Er ist mit 44 an Tuberkolose gestorben, und das auch noch in Deutschland. Und wenn ich wie Tolstoi uralt werde, meine Schuhe selbst nähe und noch mit 80 Japanisch lerne, um mir meine Leserpost von dort übersetzen zu können? Man hat wahrscheinlich keine Wahl, es steht alles schon fest. Die Laune leidet darunter, daß ich immer wieder als Idiot behandelt werde, nur weil meine Gedanken zu kompliziert sind, um sie in der fremden Sprache auszudrücken, weshalb ich mich nur stockend artikuliere. Plötzlich kommt der Moment, wo man keine Lust mehr hat, hier zu sein, es reicht schon, einmal von einem Kioskmädchen schlecht behandelt zu werden. Die Technik, sich in aller Seelenruhe mit Geldzählen oder Aufzeichnungen in einem Rechnungsbuch zu befassen, während der Kunde dumm vor der Luke steht, ist hier weit verbreitet. Ich denke dann immer: "Na und? Ich lese Proust." Aber lieber würde ich freundlich bedient werden. Auch wenn ich mich im Kurs zum zehnten mal vorstellen soll, weil wieder ein Neuankömmling die Gruppe bereichert und ich sagen soll, was ich von Beruf bin, denke ich: "Ich lese Proust", sage aber "Journalist." Wie schön wäre es, endlich einmal nicht mehr luegen zu muessen. Nichts, was ich mache, hat einen praktischen Grund. Warum lernst du Russisch? Nützt dir das was bei der Arbeit? Nie fällt mir die richtige Antwort ein: Nein, ich hoffe, ich brauche die Sprache nie für irgendeine Arbeit, ich finde es lediglich beglückend, Vokabeln nachzuschlagen.

S.437-461 Der arme Swann, ich muß zugeben, so weit, wie er, bin ich in meiner Eifersucht noch nie gegangen. Der Frau zu unterstellen, daß sie einen nur zu sich gerufen hat, damit ihr anderer Liebhaber, der sich irgendwo in der Wohnung versteckt hält, eifersüchtig wird, oder sich erregt, das ist schon ziemlich paranoid. Immerhin findet er Trost im Bordell, dort "verbrachte er eine Stunde in melancholischem Gespräch mit einem armen Mädchen, das sich wunderte, daß er weiter nichts wollte." Diese romantische Vorstellung vom Bordell kann man wohl inzwischen auch vergessen. Odette ist mal eben ein Jahr mit den Verdurins auf Mittelmeerkreuzfahrt. Im Omnibus trifft Swann Madame Cottard, die früher von der Kreuzfahrt zurückgekehrt ist. Sie klärt ihn darüber auf, wie sehr Odette ihn verehrt, und daß sie dauernd von ihm spricht. Diese Neuigkeit löst etwas in ihm. Er verspürt "eine überflutende Zärtlichkeit" für Madame Cottard "und beinahe auch für Odette, denn sein Gefühl für sie war jetzt frei von Schmerz und daher kaum noch Liebe zu nennen." Madame Cottard hat ihn ohne es zu ahnen therapiert. Er verspürt nur noch manchmal eine leichte Eifersucht, diese verschafft ihm aber "eine eher angenehme Erregung, so wie etwa dem Pariser, der betrübten Sinnes Venedig verläßt und nach Frankreich zurückkehrt, ein letzter Moskito beweist, daß Italien und der Sommer noch nicht so ferne sind." (Ich hatte einmal eine ähnliche Empfindung bei einer letzten Kakerlake, die ich nach einem Aufenthalt in Moskau zu Hause aus dem Rucksack schüttelte.) "...er hätte diese Liebe, von der er sich entfernte, wie eine Landschaft sehen mögen, die allmählich verschwand; aber es ist so schwer, sich zu spalten und eine wirkliche Ansicht von einem Gefühl zu haben, das man nicht mehr in sich hegt, so daß bald alles in seinem Hirn in Dunkelheit verschwamm..." Umso schwerer, darüber zu schreiben, ohne ungerecht zu sein, und die eigenen Gefühle aus der Perspektive des Genesenen zu beurteilen, wie Swann es tut: "Wenn ich denke, daß ich mir Jahre meines Lebens verdorben habe, daß ich sterben wollte, daß ich meine größte Leidenschaft erlebt habe, alles wegen einer Frau, die mir nicht gefiel, die nicht mein Genre war!"

Unklares Inventar: - ein "Entoutcas" als Schirm.

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