Schmidt liest Proust
Samstag, 5. August 2006

Odessa, Uspenskaja 13 - S.355-376

Selten habe ich so unter Streß gestanden, wie im hiesigen Literaturmuseum. Da ich der einzige Besucher war, galt mir die ungeteilte Aufmerksamkeit der Aufpasserinnen, von denen in jedem Raum eine saß. Im Reiseführer stand, es sei hier nicht gern sehen, wenn man zu schnell durch die Ausstellungsräume husche, man riskiere zurückgerufen zu werden, wenn man etwas nicht richtig gewürdigt habe. Immer, wenn ich einen Raum betrat, stand die jeweilige alte Dame auf und folgte mir in dezentem, aber konstantem Abstand. Ich hatte also immer jemanden im Ruecken, der mich beobachtete, wenn ich Raum für Raum abarbeitete und versuchte, mich vor jeder Schautafel angemessen lange aufzuhalten. Da an den Waenden vor allem alte Zeitungsausschnitte hingen, die größtenteils auf Ukrainisch verfasst waren, habe ich sicher einen unkonventionellen Geschmack bewiesen, weil ich beim besten Willen nicht abschaetzen konnte, was in dem ganzen Wirrwar wichtiger war und was nicht. Die Fotos haben mir nicht weitergeholfen, weil ich von den meisten ukrainischen Autoren nie gehört habe. Mir ist immerhin aufgefallen, daß die Menschen auf den frühen russischen Fotografien immer wirken, als seien sie gesuchte Schwerverbrecher. Ob das nur an der Technik der Fotografen liegt?

Was hilft es Swann, wenn Odette sich gemein verhält und die erste Frische ihrer Jugend bereits eingebuesst hat? Sie könnte wahrscheinlich auch aussehen wie ein Frosch, denn "...seine Liebe reichte weit über die Region des physischen Verlangens hinaus. Odettes Person nahm eigentlich keinen großen Raum mehr darin ein." Liebe ist also eine Art Krankheit, und, wie es bei einer Grippe ja auch unwichtig ist, wer einen angesteckt hat, normalerweise wird man es nie erfahren, so ist auch bei der Liebe voellig gleichgueltig, in wen man sich verliebt. Aber das zu wissen, hilft einem im Krankheitsfall natuerlich wenig. "Er sagte sich dann fast staunend: 'Das ist sie', als wenn man uns plötzlich aus uns heraustransponiert, eine unserer Krankheiten zeigte, und wir sie gar nicht mit dem ähnlich fänden, was wir ins uns verspüren." Selbstverstaendlich muß er ihr das Geld für Bayreuth geben, auch wenn sie nicht wuenscht, dass er sie dorthin begleitet. Aber wenn sie gegen seinen Willen führe, müßte er ja noch eifersüchtiger sein, dann schon lieber so tun, als habe man sie selbst auf die Idee gebracht.

Verlorene Praxis: Der Prinzessin von Parma zum Geburtstag einen Früchtekorb schicken.

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