Schmidt liest Proust
Donnerstag, 27. Juli 2006

S.167-S.190

Curtius schreibt in seinem Proust-Essay: "Das Leben Marcel Prousts repräsentiert den seltenen Fall einer restlosen Übertragung der Energie von der Praxis in die Poiesis. [...] Es ist nicht etwa nur so, daß das Schaffen ihm keine Energie mehr für das Handeln übrigließ; es verhält sich vielmehr so, daß das Handeln und überhaupt das Wollen in der praktischen Sphäre jenes reine Schauen getrübt und eingeengt hätte, das die Voraussetzung seiner Kunst ist." So gesehen sind Homosexuelle eher prädestiniert zum Künstler, denn mein "reines Schauen" wurde heute davon "getrübt und eingeengt", daß ich einem Kind den Hintern abwischen mußte. Shakespeare never did this, und Proust neither.

Spürbarer Wille zu überraschenden, genußvoll ausgemalten Bildern: "Manchmal zog durch den Nachmittagshimmel schon der noch nebelweiße, heimliche, glanzlose Mond wie eine Schauspielerin, die erst später auftritt und vom Zuschauerraum aus in Straßentoilette einen Augenblick ihren Kollegen zuschaut in dem Bestreben, selbst im Hintergrund zu bleiben und nicht beachtet zu werden." Marcel geht allein durch den Wald und erwartet von seinem Leben, daß in jedem Moment ein ländliches Mädchen auftauchen und ihn in die Arme schließen wird, wobei er betont, daß jene hypothetische Vorübergehende "für mich nicht nur ein beliebiges Exemplar des Gattungsbegriffs 'Frau' war, sondern ein notwendiges und natürliches Produkt dieses speziellen Bodens." In Paris wäre ihm dieselbe nämlich fade vorgekommen, die Frau muß dem Ambiente entwachsen. Weil sich auch für einen Proust, nur auf die eigene Willenskraft gestützt, keine Frau aus der Landschaft hervorzaubern läßt, schlägt er aus Wut auf die Bäume ein. Dann beobachtet er zufällig durch ein Fenster eine leicht sadistische Szene zwischen der lesbischen Mademoiselle Vinteuil und ihrer Freundin, die sich umgarnen, nachdem Mademoiselle Vinteuil das Bild ihres verstorbenen Vaters zum Bett hin gedreht hat. Das ist nun der Dank. Heutiges unbekanntes Inventar: Camaïeumalereien.

Der Tag war heiß, übermorgen geht es nach Odessa zum Russischkurs. Ich muß noch eine Hose kaufen, bekanntlich keine leichte Aufgabe. Und nachdem ich geduldig 25 Seiten Proust gelesen habe, geht es mir wie Proust: "Mein so lange zur Unbeweglichkeit verurteilter Körper, der sich mit Unruhe und gestautem Bewegungsdrang aufgeladen hatte, empfand das Bedürfnis, wie ein Kreisel, der endlich aufgesetzt wird, nach allen Seiten zu schnurren." Dann will ich mal zum Kaufhaus schnurren.

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